Die wilden Goldenen Zwanziger
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Triggerwarnung: Vergewaltigung, Gewalt und derbe Sprache
Berlin 1927- Inmitten des berühmten Bordells „Ritze“ wächst ein kleines achtjähriges Mädchen auf. Hedi lebt Seite an Seite mit ihrer Großmutter Minna, die das Lokal führt, einer Domina und der schönsten Hure Berlins. Dass dadurch einige Probleme entstehen, war fast schon vorprogrammiert. Trotzdem oder gerade wegen ihrer harten Vergangenheit wird Hedwig zu einer Hollywood-Ikone und steht kurz vor ihrer Hinrichtung. Im Gefängnis erzählt sie dann Noah, einem Journalisten der New York Times, die ganze Wahrheit über ihr Leben – und verändert somit die Sicht auf sein eigenes.
Abseits des schillernden Teils der Metropole drängen sich Huren, Arbeiter und Zuhälter in die Ritzen der Stadt. Die Mulackstraße in Friedrichstadt ist zwar kein Ort für ein Kind, doch schafft es Hedi dort groß zu werden. Das Schmieren der Polizei und Behörden gehört zum guten Ton und wird schon fast vorausgesetzt. Nachdem eines Tages der Domina Natalia, die wie eine Mutter für Hedi ist, bei der Arbeit ein Unfall passiert, ist jedoch auch das Schmiergeld nicht mehr ausreichend. Im Laufe der folgenden Zeit verstricken sich die Frauen der Ritze immer mehr in Lügen und greifen zu immer skrupelloseren Methoden. Als Natalia die Peitsche wieder in die Hand nimmt, ist die schönste Hure Berlins, Colette, dem selbstsüchtigsten Mann Berlins verfallen: Hedwigs Vater. Dieser ist selbst ein Sexarbeiter, nur führt ihn seine Tätigkeit in die schönsten Gemächer der reichsten Frauen und nicht in die Dachstube, die seiner Mutter gehört. Schnell wird Natalia, Minna, Hedwig und den Leser:innen klar, dass das Liebesglück zwischen Colette und Fritz nicht lange währt oder nie vorhanden gewesen ist. Was das jedoch mit Hedwigs Hinrichtung im Jahr 1954 zu tun hat, wird erst am Ende aufgelöst. Die Spannung bis dahin ist indessen kaum auszuhalten.
Keine Juten Sitten
Die Charaktere sind neben der derben Sprache und dem Berliner Dialekt das Herzstück des Romans von Anna Basener. Hedwig, die Hauptprotagonistin des Buchs im Teil der Gegenwart ist, erzählt von ihrer Vergangenheit im Berlin der Goldenen Zwanziger. Sie beschreibt dabei eher das Leben ihrer Familie, der Huren Natalia und Colette, sowie ihrer Großmutter Minna, die auf dem ersten Blick ein hartes Eisen zu sein scheint. Alle haben eigene Träume und Vorstellungen wie ihr Leben irgendwann nach ihrer harten Arbeit aussehen soll: Natalia will Kinder (natürlich ohne einen Mann dafür zu brauchen) und Colette will nach Paris. Ansonsten möchte Minna für ihre Schützlinge nur das Beste und steckt dafür viel ein. In der Gegenwart dreht sich dann Hedwigs Leben im Gefängnis mehr und mehr um den Journalisten Noah. Dieser bringt ihr einerseits ihr Frühstückselixier – eine Mischung aus Äther und Blütenblättern – und kurzzeitige Wärme in den eierschalenfarbenen Wänden. Die Leser:innen lernen ihn ebenso mehr und mehr kennen und mögen.
Allgemein schafft es Anna Basener jeden der Charaktere so zu zeichnen, dass man sie nicht missen möchte. Egal, ob es Hedis selbstsüchtiger Vater oder die Zuhälter-Konkurrenz in Friedrichstadt ist. Es macht den Roman und die Zeit authentisch. Man verschlingt fast schon automatisch die 380 Textseiten der Geschichte und wünscht sich, sie würde nie enden. Was sie leider bei einer Hinrichtung durchaus muss.
Was nimmt man am Ende mit? Vorrangig die coole Berliner-Mundart aus den 1920ern. Daneben, dass Aufklärung in der Prostitution wichtig und richtig ist. Die 120.000 weiblichen und 35.000 männlichen Sexarbeiter:innen in der damaligen Zeit haben viel für die heutige Sicht auf den Beruf getan. Umso schöner ist es, Die Juten Sitten in den Händen zu halten und zu lesen, wie viel Herzblut die Autorin in das Buch und die weiblichen Charaktere gesteckt hat. Sie geizt nicht an schlüpfrigen Worten, Emanzipation und natürlich auch nicht an Berliner Luft. Za zshenshhin – Auf die Frauen (damals wie heute) und eine klare Leseempfehlung!
von Celine Buschbeck
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Anna Basener
Die Juten Sitten. Goldene Zwanziger. Dreckige Wahrheiten.
Goldmann 2020
384 Seiten
12 Euro