„Im schwarzen Herzen Hamburgs“
—
Triggerwarnung: Ableismus, Abtreibung, Medizinische Eingriffe, Klassismus
Das Hamburg in Miriam Georgs historischem Roman Elbleuchten besitzt zwei Gesichter, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Im Jahr 1886 führt die Arbeiter*innenschicht zwischen den stinkenden Fleeten der Gängeviertel einen Überlebenskampf, während die wohlhabende Elite im Überfluss schwelgt. Lily Karsten genießt als Henrys Verlobte und Tochter einer reichen Reederfamilie ein privilegiertes, aber auch eintöniges Leben. Als der Wind den Hut der jungen Frau in die Elbe weht, erleidet ein Hafenarbeiter beim Versuch, die Kopfbedeckung aus dem Hafenbecken zu retten, lebensgefährliche Verletzungen. Jo Bolten, ein junger Kollege, rettet den Mann aus dem Wasser und kommt ins Gespräch mit Lily, die von Schuldgefühlen geplagt wird und dem Verunglückten helfen möchte. Jo eröffnet der wohlbehüteten Reederstochter schonungslose Einblicke in die gnadenlose Realität der Gängeviertel und die soziale Ungerechtigkeit der Hafenstadt. Während Lily immer tiefer in diese fremde Welt eintaucht, entwickelt sich eine verbotene Verbindung zu Jo. Doch Lily ahnt nichts um Jos Abgründe und seiner Verbindung zum mächtigsten Kauffmann Hamburgs, Ludwig Oolkert, der seinen Einfluss auch auf die Karstens ausweiten möchte.
In der Beziehung zwischen Lily Karsten und Jo Bolten kollidieren Lebensrealitäten, deren Gegenüberstellung die historischen Lebensbedingungen kontrastreich abbilden. Denn im Mittelpunkt des Romans steht nicht allein die Entwicklung der Liebesgeschichte zwischen Lily und Jo, sondern vielmehr die Brutalität des Klassismus auf den unterschiedlichsten Ebenen. Krankheit und Tod, Armut und Kriminalität prägen den Alltag der Gängeviertel, während in der Oberschicht einzig der gute Ruf auf dem Spiel steht. Lilys Blick schärft sich zunehmend für die Ignoranz ihres Umfelds für die ausweglose Situation innerhalb der Elendsviertel. Besonders der fehlende Zugang zur medizinischen Versorgung wirft stetig neue Herausforderungen für die Charaktere auf. Als Lily mit dem Feminismus in Kontakt kommt, beginnt sie aufs Neue, ihr Leben infrage zu stellen. Die Protagonistin sieht sich konfrontiert mit einem Frauenbild, dass ihre Mündigkeit einschränkt und ihren Träumen im Weg steht. Emma, eine junge Ärztin, prägt dabei Lilys Weltbild als Rebellin, die eine Brücke zwischen Geschlechterungleichheiten, Weiblichkeit und Medizin schlägt.
Der Schreibstil und die Erzählstrategie der Autorin sorgen für Spannung bis zur letzten Seite. Besonders die Verflechtungen der plastisch gestalteten Charaktere in sozialen Dynamiken verleihen dem Roman eine Seele. Insgesamt bildet Elbleuchten das Zusammenspiel unterschiedlichster Diskriminierungsformen ab und malt ein erschreckendes und zugleich fesselndes, ein persönliches, aber auch gesellschaftliches Porträt vom Hamburg des 19. Jahrhunderts, dessen Missstände – wenn auch in anderer Gestalt – auch heute noch hochaktuell sind – eine große Buchempfehlung.
von Elisa-Maria Kuhn
—
Miriam Georg
Elbleuchten – Eine hanseatische Familiensaga
Rowohlt 2021
640 Seiten
10 Euro