„Es war einmal ein Leben und es ging daneben“
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Was machen wir mit Andersartigkeit? Mit der Abweichung von der Norm? Was passiert, wenn Andersartiges in die Gesellschaft eintritt? Mit diesen klaren und doch so schwierigen Fragen setzt sich die Inszenierung „Zaches“ des Theaters im Gärtnerviertel zu E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Klein Zaches genannt Zinnober“ auseinander.
Ein Kind verändert das Leben. Mit welchen Herausforderungen das verbunden ist, zeigt der Anfang des Stückes schonungslos. Und nicht jede ist zur perfekten Mutter geboren. Was tut Frau, wenn sie merkt, dass ihr die Sache über den Kopf wächst, sie ganz allein und das dauernd brüllende Baby nur noch anstrengend ist? Das ist die Ausgangssituation im Märchenund in der Inszenierung. Hinzukommt, dass Zaches kein „normales“ Kind ist. Er kann nicht richtig sprechen und hat manische Tics, die seine Art zu laufen und sich auszudrücken, stetig begleiten. Sehr schnell wird deutlich: Jemand wie er hat es schwer, in der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Doch durch die Hilfe einer Fee, die ihn mit einem Zauber belegt, erhält er die Möglichkeit, sich sozial zu etablieren. Er bekommt eine gute Anstellung, eine Frau und gesellschaftliches Ansehen. Doch all das gründet auf falschen Tatsachen.
Kann ein solches Sozialexperiment gutgehen?
Die Antwort steht – wenn wir ehrlich sind – schon von Anfang an fest. Gefangen in seinen eigenen Zwängen und denen, die ihm die Gesellschaft auferlegt, bleibt Zaches nichts anderes übrig, als schrittweise abzusteigen. Und auch das Publikum unterliegt dieser Gesetzmäßigkeit.Es kann nichts anderes tun, als mit ihm zu leiden und sich von seiner Andersartigkeit dennoch abgestoßen zu fühlen. Diese wird von Valentin Bartzsch in der Rolle des Zaches so echt und authentisch verkörpert, dass sich die große Spannung dieser Ambivalenz direkt auf die Zuschauer*innen überträgt. Eine große schauspielerische Herausforderung, die auf schockierende Weise gelingt und das Publikum gefangen nimmt. Verstärkt wird dieser Effektaußerdem durch die Gestaltung der Bühne. Die laufstegartige Aufmachung der Spielfläche, die einen Großteil des Saales einnimmt, integriert die Zuschauer*innen räumlich in das Geschehen und überwindet so die Barriere zwischen Akteur*innen und dem Publikum. Die Inszenierung beschränkt sich nicht nur auf die klassische Bühne, sondern nimmt den gesamten Raum des Sängerheims Gaustadt, inklusive Balustrade, Treppe und Eingangstürenein. Die Präsenz der Bühne und der Schauspieler*innen ist so gegenwärtig, dass es unmöglich ist, sich der aufgeladenen Atmosphäre zu entziehen. Die minimalistisch eingesetzten Requisiten und die trikotartigen Kostüme unterstützen diese, ohne selbst zu sehr in den Vordergrund zu treten.
Der Grundton des Stückes ist beklemmend, spannungsgeladen und voller Emotionen. Doch Olga Seehafer versteht es in ihrer Inszenierung, zwischendurch witzige Situationen zu erzeugen, die einen leichtfüßigeren Zugang zum Thema ermöglichen. Dies geschieht vor allem durch die unglaubliche Vielseitigkeit der Schauspieler*innen (Valentin Bartzsch, Patrick L. Schmitz, Elena Weber, Aline Joers, Stefan Bach und Werner Lorenz), die fast alle mehrere Rollen übernehmen und dabei jede Figur authentisch verkörpern.
Fazit: „Zaches“ bringt einen alten Stoff mit der richtigen Ausgewogenheit aus Schonungslosigkeit und Witz in die heutige Zeit und zwingt das Publikum einmal mehr dazu, seine Komfortzone zu verlassen.
Die nächsten Aufführungen finden am 10.11., 11.11. 12.11., 16.11., 17.11., 19.11., 23.11. und 24. 11. statt, außerdem noch am 01.12. und am 02.12.2022.
von Lea Griesbach