Die kleine Familie am Rande der Ewigkeit
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Content Warning/ Inhaltswarnung: Suizid, körperliche und seelische Gewalt, manipulatives Verhalten, Tod
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Der Horror in den eigenen vier Wänden, die Familie als Gefängnis und die quälende Frage nach der eigenen Identität illustriert in den kunterbunten Farben einer Bilderbuchkulisse… das alles vereint sich in Sam Max’ aufwühlendem Stück „Zaun“, das am 20. Januar 2023 unter der Regie von Wilke Weermann im E.T.A.-Hoffmann-Theater seine Premiere feierte.
Ein Gefühl wie in einem bizarren Alptraum, der einfach nicht enden will. Ein Horrorfilm, der sich nicht abschalten lässt, sodass man als Zuschauer*in schon vollkommen verkrampft vor lauter Anspannung in einer unbequemen Haltung dasitzt und wahrscheinlich später nicht schlafen kann. Es ist genau diese latent unangenehme Atmosphäre, welche sich durch das Stück “Zaun” zieht. Von der ersten Sekunde an werden die Zuschauer*innen vom Bühnengeschehen gefesselt und auch nach dem Ende der Vorstellung nicht so schnell wieder losgelassen. Der Inhalt ist rasch zusammengefasst. Eine Familie lebt auf einer weit abgelegenen Farm in Amerika. Mutter, Vater und deren Kind Avery bilden einen in sich geschlossenen Mikrokosmos. Innerhalb dieser enggesteckten Welt gelten die Gesetze der streng gläubigen Eltern (Florian Walter, Philine Bührer), mit denen sie ihre Tochter Avery (Jeanne le Moign) erziehen. Zwischen Dankbarkeitshymnen am Morgen, anstrengender Gartenarbeit und Eiern zu jeder Mahlzeit des Tages findet sich die junge Avery wieder – täglich grüßt das Murmeltier. Die überambitionierten und stets mit einem breiten Lächeln ausgestatteten Eltern dulden keine Veränderung im Tagesablauf. Umso besorgter scheinen sie, dass Avery zunehmend weniger schläft und Gespräche mit ihrem toten Onkel (Eric Wehlan) führt. Dabei wühlt sie in ihren Erinnerungen, welche Geheimnisse freilegen und Averys Wunsch nach einem Ausbruch aus der ihr bekannten Welt und ihre innere Wut immer größer werden lassen. Und was hat es eigentlich mit der abseits des Zauns lebenden Liebschaft ihres verstorbenen Onkels (Antonia Bockelmann) auf sich? Noch dazu scheint der unnahbare Lieferjunge (Marek Egert) Avery und ihren Rachegelüsten nach und nach zu verfallen.
“Wir sind dankbar!”
Die einzige Person mit Verbindung zur Außenwelt ist Averys Onkel. Es ist ein Sozialexperiment. Wie sehr kann man einen Menschen von äußeren Einflüssen abschirmen und was passiert, wenn er nach Jahren der Isolation doch mit dem “Anderen” in Berührung kommt? Oder was ist, wenn dieser Mensch feststellt, dass er nicht der von den Eltern vermittelten Norm entspricht? Die Zuschauer*innen begleiten Avery auf ihrer Suche nach der eigenen Identität und Sexualität, die ungeahnt in einer blutrünstigen Tragödie endet. “Zaun” wirkt wie ein grausamer Fiebertraum und zeigt dabei: Wahnsinn und Realität liegen meist nicht weit voneinander entfernt. Avery – weil noch zu jung – bleibt in den Fängen ihrer Eltern zurück, während der Ausbruch aus der zuckerwattenbunten Welt ihrem Onkel zum Verhängnis wird. Unter dem paradiesischen Apfelbaum begibt sie sich in Gesprächen mit ihrem Onkel auf Spurensuche und will dabei doch eigentlich nur erfahren, warum er sie zurückgelassen hat. Dieser wird ausdrucksstark wie eine mechanisch anmutende Aufziehpuppe dargestellt, die immer wieder durch aufgenommene und teils stimmenverzerrende Tonaufnahmen zu Wort kommt – bis dann die Verbindung ins Jenseits bröckelt. Dieser interessante Twist wird durch ein herausragendes Bühnenbild aus pastellfarbenem Fachwerkhäuschen und einem fehl am Platz wirkenden Fahrstuhl ergänzt, die in ihrer Kombination alles andere als zuckersüß und unbeschwert wirken. Immer wieder gelingt es „Zaun“, den Spagat zwischen einer grausam anmutenden Realität und dem absoluten Wahnsinn zu schaffen. Eine schrecklich nette Familie – doch nicht alles ist Gold, was glänzt, auch wenn es die schillernden Kostüme vermuten lassen. Jeder Konflikt wird durch einen Schenkelklopfer überspielt, Avery wächst folglich “wie ein Präparat im Einmachglas” heran. Die Katastrophe lässt nicht lange auf sich warten und zieht die Zuschauer*innen in eine von Bestialität trotzende Welt hinein. Trotz dieses schwer verdaulichen Inhalts behält das Stück eine gewisse Leichtigkeit. Sam Max‘ erschaffene Welt hinter dem Zaun, brillant inszeniert von Regisseur Wilke Weermann, sorgt hier und da für einige Lacher, bevor einem diese im Halse stecken bleiben. Wer also ein Theaterstück sucht, welches sich mit den Abgründen der Menschheit beschäftigt und dabei auch eine große Prise Horror ab kann, der ist bei “Zaun” genau richtig aufgehoben.
Die nächsten Aufführungen finden am 25.01., 26.01., 29.01., 04.02. und am 05.02. statt.
von Karina Hein und Lea Griesbach