Die intellektuelle Elite um 1800
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Goethe, Schiller, Novalis, Fichte, Schelling, Hegel, die Gebrüder Schlegel und Humboldt: Sie alle waren in Jena. Die kleine Universitätsstadt im Osten des Reiches war um 1800 Dreh- und Angelpunkt der intellektuellen Elite der deutschen Literatur und Philosophie. Man tat sich zusammen, tauschte sich aus, diskutierte, stritt, versöhnte sich. Und man liebte. Bestseller-Autorin Andrea Wulf (Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, Die Vermessung des Himmels) erzählt in ihrem neuen Sachbuch Fabelhafte Rebellen, erschienen im Verlag C. Bertelsmann, wunderbar aufregend und mitreißend vom Leben und Lieben, Dichten und Denken dieses illustren Freundeskreises. Und sie macht deutlich, wo die Anfänge unserer Individualität liegen. Anhand zahlreicher Zitate aus Briefen, Tagebüchern und den philosophischen und poetischen Schriften spannt sie ein mehrere Jahre umfassendes Kaleidoskop aus Einzelschicksalen und Gemeinschaftserfahrungen. Der 80-seitige Anhang mit Zitatbelegen, Anmerkungen und ausführlicher Bibliographie zeugt von einer wissenschaftlichen Herangehensweise der Historikerin.
Im Zentrum
Caroline Schlegel war das intellektuelle Zentrum der Jenaer Frühromantiker. Und das nicht, weil sie mit dem einen Schlegel verheiratet war, der andere mit ihr sympathisierte oder Schelling sich in sie verliebte. Sie war klug und ambitioniert und scherte sich nicht darum, was die Jenaer Gesellschaft über sie dachte. Sie übersetzte mit ihrem Mann Shakespeare, lektorierte und korrigierte Beiträge für ihre Zeitschrift, schrieb Rezensionen, war liebende Mutter, sinnliche Frau, selbstbewusste Freundin. Und die anderen? Radikal waren sie, progressiv. Schillers Idealismus, Fichtes Ich-Philosophie, Schellings Naturphilosophie – Wulf führt nachvollziehbar und verständlich in die Theorien ein. Ihre besondere Leistung aber besteht in der einfühlsamen Charakterisierung der selbstbewussten Rebellen. Wer waren diese Menschen, die so revolutionäre Ideen proklamierten und so leidenschaftlich debattierten? Für was standen sie ein? Wie haben sie gelebt, wen geliebt? Was hat ihr Denken beeinflusst und geprägt? So erscheinen sie nicht nur als Philosophen und Dichter, beurteilt anhand ihrer intellektuellen Fähigkeiten, sondern als Ehepartner, Geliebte, Eltern, Freunde, Nachbarn. Sie liebten und litten, suchten und fanden, stellten sich Kritikern, kämpften gegen Krankheiten und versuchten sich in einer Welt zu behaupten, die von Napoleons Vormarsch im Heiligen Römischen Reich gefährdet war. Was wir von ihnen lernen können? Sich unserer selbst bewusst zu sein, schafft auch ein neues Bewusstsein für unsere Mitmenschen. Wir können ein besserer, ein empathischerer Teil unserer Gesellschaft sein, wenn wir unser Selbst ausloten, unser Ich verstehen.
Poesie und Wissenschaft
Die Deutschbritin Andrea Wulf hat sich als herausragender deutscher Exportschlager erwiesen und mit ihren fabelhaften Rebellen den philosophischen und dichterischen Höhepunkt der deutschen Geistesgeschichte anschaulich und zugänglich erzählt. Sie hat, ganz in der Tradition der Frühromantiker, Poesie und Wissenschaft zu einer Einheit verbunden. Eine Vorgehensweise, die sich in Sachbüchern weiter festigen sollte. Denn es ist diese Einheit von zutiefst menschlich erzählter Geistesgeschichte, die einem die so spannenden Ideen und Konzepte nahebringt.
von Luisa Bader
Andrea Wulf
Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C. Bertelsmann 2022
528 Seiten
30 Euro