Jung, gebildet, arm
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Gaia soll es einmal besser haben, entscheidet ihre Mutter Antonia, koste es, was es wolle. Wie viel Antonia für ihre Kinder zu geben bereit ist, wie resolut, pragmatisch und herrisch sie ihre Familie zusammenhält, wird beim Lesen des neuen Buches Das Wasser des Sees ist niemals süß der jungen Italienerin Giulia Caminito schnell klar. Das eine so zupackende und rücksichtslose Mutter nicht nur Segen, sondern auch Fluch ist, muss nicht lange erklärt werden, so eindrücklich beschreibt die Autorin die Beziehung von Mutter und Tochter. Gaia wächst in prekären familiären Verhältnissen in Roms Peripherie auf. Neben der Mutter Antonia besteht die Familie aus dem Vater, der seit einem Arbeitsunfall weder gehen noch arbeiten kann, dem geliebten großen Bruder und den beiden kleinen Zwillingen. Episodenhaft beschreibt die erwachsene Gaia ihren Lebensweg kühl und distanziert, angefangen bei ihrer Kindheit in den Armenvierteln Roms, einer kurzen Episode in einer Sozialwohnung in einem besseren Viertel und schließlich am Lago di Bracciano, dessen Wasser nach Sonnencreme schmeckt und nach Benzin. Sie beschreibt ihre Suche nach Zugehörigkeit in der Schule, zu der sie ewig mit dem Zug fahren muss, den Druck der Mutter, gute Noten zu erreichen (und so gebildet aus der Armut auszubrechen) und ihr Gefühl, dennoch nie dazuzugehören, weil sie keine Haargummis zum Tauschen, kein Handy und keine modernen Kleider hat. Sehnsucht, Wut und Verletzlichkeit wechseln sich ab und lassen wenig Raum für positive Erinnerungen.
Vom Versuch eines Aufstiegs
Dieser Roman ist kein Wohlfühlroman, sondern verlangt der*dem Leser*in einiges ab. Mit bildgewaltiger Sprache mutet einem die Autorin eine unnahbare, brutale, kalte und wütende Protagonistin zu. Die intensiven Bilder und teilweise fast zarten Sätze hallen noch lange nach. Gaia trägt so viel Zorn in sich – gegen sich selbst, die rücksichtslose Mutter, die sozial besser gestellten Freund*innen, die Welt – der sich immer wieder einen Weg nach außen bahnt und schließlich alles zerstört. Mit ihr hat die Autorin keine sehr sympathische, aber eine vielschichtige und tiefsinnige Figur geschaffen, die Wände einrennt und dann doch nicht aus ihrer Haut kann. Am Ende scheitert Gaia an sich selbst und ihrer Wut, die die Hoffnung auf Aufstieg nimmt und landet dort, wo auch ihre Mutter ist – als Haushaltshilfe mit Uniabschluss bei den Reichen. Dieser (Anti-)Bildungsroman zeigt: Bildung ist nicht alles.
von Hannah Deininger
Giulia Caminito
Das Wasser des Sees ist niemals süß
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Verlag Klaus Wagenbach 2022
311 Seiten
26,00 Euro