„Ein Tag wie ein Leben“
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Content Warning/Inhaltswarnung: Selbstverletzung, häusliche Gewalt, Alkoholismus
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Es ist der 31. August 1999, der letzte Tag des Sommers. Bald ist Schluss mit Ferien, Freibadpommes und der Gelegenheit für richtig große Abenteuer. Doch nicht alle können sich über die schier unendlichen Möglichkeiten des Sommers freuen – allen voran Pascal. Der 15-jährige Pascal Friedrich, den meisten nur bekannt unter dem Namen „Krüger“, ist schon seit einiger Zeit kein Freund mehr von Sommerhitze oder dem Schwimmen, welches einst zu seinen größten Hobbies zählte. Seit einem verhängnisvollen Unfall traut sich der Teenager nicht mehr schwimmen zu gehen, versteckt seine Narben unter einer doppelten Schicht T-Shirts und hat Angst davor sich zu verlieben, denn er kann sich aufgrund seines augenscheinlich größten „Makels“ nicht vorstellen, jemals von einem Mädchen aufrichtig gemocht zu werden. Doch dann kommt Jacky.
Unvergleichlich, ungezähmt und unaufhaltsam. Das „Zirkusmädchen mit den feuerroten Haaren, den wasserblauen Augen und keiner Angst vor nichts“ schlägt in Pascals Leben ein wie ein Komet. Die ebenfalls 15-Jährige ist in Bodenstein – Pascals Heimatort – auf der Durchreise und verzaubert ihn nicht nur mit ihren Talenten als Messerwerferin und gewitzte Diebin, sondern auch mit ihrer unfassbaren Ausstrahlung, Willensstärke und ihrer augenscheinlichen Furchtlosigkeit. Für Pascal ist bereits bei der ersten Begegnung klar – als Jacky mit einem gestohlenen Nokia 3210 inklusive Pascals Rucksack vor dem ortsansässigen Ladenbesitzer Ewald flieht – dass das Mädchen etwas Besonderes ist und er sie weiter kennenlernen möchte. Aus einem ganz normalen Sommertag wird der Beginn eines aufregenden Abenteuers gefüllt mit Freundschaft, dem ersten Verliebtsein sowie dem beiläufigen Aufdecken einer versteckten Marihuana-Plantage und einem Showdown unter akuter Lebensgefahr.
Motivierend, mitreißend und bewegend
Man vergisst nicht, wie man schwimmt von Spiegel-Bestseller Autor und Podcaster Christian Huber ist eine Geschichte, die ich vor dem Lesen so nicht erwartet habe. Ich wusste zwar schon in etwa, um was es in diesem Buch gehen würde, jedoch wurden meine Erwartungen während des Lesens stark übertroffen. Anfangs habe ich mit einer Coming-of-Age-Interpretation von Wells‘ Hard Land gerechnet, fand mich jedoch in einer lebhaften und emotionalen Handlung mit amüsanten Anekdoten und den vielen Eigenheiten eines Dorfes wieder, die mich teilweise sehr an meine eigene Kindheit auf dem Dorf erinnerten. Huber schafft es einen einzigen Tag so detailliert und aufregend zu gestalten, dass man wahrhaftig das Gefühl bekommt, man verfolge die Liebes- und Lebensgeschichte des jugendlichen Protagonisten über Jahre hinweg anstatt einer eintägigen Momentaufnahme. „Ein Tag wie ein Leben“ – genau das ist es, was der Autor auf 400 Seiten zu Tage bringt und sich, in meinen Augen, auf keiner dieser Seiten in Klischees oder Wiederholungen verrennt. Dazu kommt, dass die zugleich imposanten als auch sympathischen Hauptcharaktere alle ihr eigenes Päckchen zu tragen haben und somit große Empathie bei den Leser*innen erwecken.
Allen voran Pascal, der bereits zu Anfang unverständlich klarmacht, dass er sich im eigenen Körper unwohl fühlt und nicht mehr schwimmen gehen kann aus Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und vergangener Mobbingerfahrungen, die ebenfalls Grund für den „Spitznamen“ Krüger sind. Selbst die scheinbar furchtlose, selbstbewusste und immer mutige Zirkusartistin Jacky berichtet von ihrer traumatischen Vergangenheit sowie eigenen Unsicherheiten, mit denen sie lange zu kämpfen hatte. Nichtsdestotrotz hat sie es sich zum Ziel gemacht, ihr Leben in vollen Zügen zu genießen und motiviert somit nicht nur junge Leser*innen: „Durch die Löwen habe ich gelernt, dass man jeden Tag genießen muss. Das habe ich für mich entschieden. Das gehört zu mir. Daran erinnern mich meine Narben. Die einzige Möglichkeit, etwas vom Leben zu haben, ist, sich mit allem, was man hat, hineinzuwerfen. Man muss sich was trauen, weil man sonst nichts erlebt. Man muss auch mal ins kalte Wasser … springen.“
Motivierend, mitreißend und bewegend. Hubers Charaktere und Handlung stellen eine gelungene Repräsentation vom Erwachsenwerden, dem ersten richtigen Verliebtsein und dem Bewusstwerden seines eigenen Körpers dar. Weder klischeebehaftet, noch überladen mit Jugendslang oder zu nostalgischen Darstellungen vom Leben bzw. Aufwachsen auf dem Dorf ist Man vergisst nicht, wie man schwimmt eine wirklich gelungene Lektüre zum Mitfühlen und Mitlachen – selbst für Leser*innen wie mich, die erst 1999 oder später geboren sind.
von Kristina Steiner
Christian Huber
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
dtv 2022
400 Seiten
22,00 EUR