„Und überall ist Leben, überall.“
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Es ist Ostersonntag und der große Saal der Bamberger Konzert- und Kongresshalle ist gefüllt. Auf der Bühne steht zunächst nur ein Notenpult, bis Autor und Jurist Ferdinand von Schirach die Bühne betritt. Im Rahmen des Bamberger Literaturfestivals liest er heute aus seinem aktuellen Roman Nachmittage, welcher letzten Herbst erschien. Er handelt von zwischenmenschlichen Begegnungen auf Reisen, der Einsamkeit und den verschiedenen Facetten menschlicher Beziehungen. Dabei nimmt Schirach in Nachmittage die Leser*innen auf eine melancholische und doch immer nachdenklich machende Reise an ferne Orte, vergangene Zeiten und in unsere heutige Gegenwart mit.
Schirach versteht es, die Menschen um sich herum ‘abzuholen’. Er gibt einige Anekdoten der Geschichte zum Besten, sei es nun über Winston und Clementine Churchill, Michel Houellebecq oder Schirachs Zeit als Strafverteidiger. Seine oft wehmütig anmutenden Texte aus Nachmittage unterbricht er mit diesen Anekdoten, die das Publikum nicht selten zum Lachen bringen, bevor der Autor sich wieder lesend über das Pult beugt. Die Fragmente seines Lebens lassen ihn und das Publikum nicht nur zurückschauen, sondern vor allem nach vorn.
Denn nach einigen Auszügen aus seinem Buch spricht Schirach noch über Gerechtigkeit und Gleichheit. Wie definieren wir Gerechtigkeit? Wie können wir sie erlangen? Was ist wirklich gerecht? Alles Fragen, mit denen sich auch schon die Philosophie beschäftigt hat. Kant leistete mit seinem kategorischen Imperativ einen Leitsatz zum gerechten Handeln, lieferte dabei jedoch keine Definition, was denn eigentlich gerecht sei. Besonders begeistert haben Schirach die Lehren von John Rawls, einem US-amerikanischen (Rechts-)Philosophen. Mit seinem Buch A Theory of Justice, zu Deutsch Eine Theorie der Gerechtigkeit, verfasste er eines der bedeutendsten Werke der Rechtsphilosophie. Er beschreibt darin das Konzept des Schleiers des Nichtwissens, eine Methode, die dabei helfen soll, einen gerechten Gesellschaftsentwurf zu kreieren. Schirach ermutigt das Publikum sich mit den großen Denker*innen auseinanderzusetzen. Sollte man dabei eine Theorie nicht verstehen, dann „ist es entweder falsch oder einfach schlecht beschrieben“. Er zeigt, dass komplizierte Sachverhalte auch immer verständlich und kurz zusammengefasst werden können und baut dadurch bewusst Hürden ab. Die Abwechslung zwischen Textpassagen und seinen Gedanken, die er in essayistischer Form in gekonnt lässiger Manier (stellenweise mit der obligatorischen Zigarette in der Hand) und doch stets eindringlich vorträgt, machen die Lesung zu einem besonderen Erlebnis. Für 1 ½ Stunden taucht das Publikum in die Ausführungen Schirachs ab und hört gebannt seinen Worten zu, die typisch für Schirach verschiedene Themen miteinander verbinden und dadurch zur weiteren Auseinandersetzung inspirieren.
Mit viel Wortwitz und Einfühlungsvermögen gelingt es dem Autor, das bunt gemischte Publikum bis zum Ende zu begeistern, sodass er sogar für eine kleine ‚Zugabe‘ an Anekdoten noch einmal kurz wieder auf die Bühne zurückkommt. Während das Lachen des Publikums im Applaus untergeht, verlässt er endgültig die Bühne. Die vielen Menschen im Saal setzen sich in Bewegung – und bei dem/der einen oder anderen tun dies sicherlich auch die Gedanken.
Wir sind nach dieser Lesung jedenfalls mehr als gespannt auf viele weitere Romane, Theaterstücke und Lesungen des Autors und können die Lektüre seiner bisher erschienenen Bücher nur empfehlen.
von Karina Hein und Theresa Werheid
Im August 2023 erscheint das neue Buch „Regen“ von Ferdinand von Schirach. Der Autor wird in der Hauptrolle ab Herbst mit dem gleichnamigen Theaterstück auf Deutschlandtour gehen. Weitere Infos gibt es beim Verlag.
Bis Mitte Mai findet in Bamberg noch das Literaturfestival mit vielen tollen Lesungen und Veranstaltungen statt. Karten und Infos gibt es beim Bamberger Literaturfestival.