In einer Pandemie bin ich geboren und in einer Pandemie werde ich gehen
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Wer anderes als Violeta del Valle könnte im gleichnamigen Buch der südamerikanischen Bestsellerautorin Isabel Allende die Erzählerin sein. Am Ende ihres Lebens schreibt diese einen Brief an ihren Enkel Camilo und blickt dabei zurück auf 100 sehr ereignisreiche Jahre ihres bewegten Lebens. Geboren 1920 erzählt sie von ihrer Kindheit in einer wohlhabenden Familie der Hauptstadt Perus, ihrer Jugend auf einem Gehöft im tiefsten Landesinneren, ihrer Heirat sowie der Geburt ihrer Kinder und Enkel. Dabei spielen neben ihrer eigenen Lebenslinie auch die Geschichten von Familienmitgliedern und Wahlverwandten eine große Rolle; so begleitet Violeta das einstige Kindermädchen Miss Taylor bis zu deren Tod. Sie erzählt von sich als unausstehliches Kind, naturverbundene Teenagerin und sinnliche Frau, die sie wurde.
Im Laufe ihres Lebens erlebt Violeta viel Freude und viel Leid, zeigt Stärke, kämpft für sich und wird doch immer wieder von einem Mann eingeschränkt. Schließlich, nach der Hälfte ihres Lebens, schafft sie es, sich zu befreien und endlich eigenständig ihre Entscheidungen zu treffen. Mit einem Händchen für Geschäfte und dem nötigen Geschick kann sie in einer Zeit, in der Frauen nicht einmal ein eigenes Konto besitzen durften, sich selbst und ihre nahestehenden weiblichen (Wahl-)verwandten finanziell absichern. Trotz ihrer sehr bewegten ersten Lebenshälfte geht Violeta auch mit über 50 Jahren neue Wege, politisiert sich und kämpft schließlich mit all ihren Mitteln für die Rechte von Frauen und gegen häusliche Gewalt. Am Ende, so schreibt sie, kann sie in Frieden sterben, denn sie hat ein gutes, lebendiges Leben voll Liebe gehabt.
Eine Frau, die klug ist und auch stark wird
Isabel Allende gelingt es meisterlich Violeta eine Stimme zu geben – als Leser*in fällt es zuweilen schwer nicht zu vergessen, dass es sich bei diesem Roman nicht um eine Autobiographie handelt. Besonders beindruckend ist die Bezugnahme auf die jeweiligen zeitpolitischen Ereignisse bis hin zum Hinweis auf die Coronapandemie 2020, während der Violeta ihre Lebensgeschichte aufschreibt. Allende gelingt es, mit Violeta eine starke, authentische Frauenfigur zu erschaffen, die (wie wir alle) erst wachsen und zu sich finden muss, auf ihrem Weg Fehler begeht, aus diesen manchmal lernt, manchmal auch nicht, Glück und Pech hat und schließlich sich selbst und ihr Leben verstehen kann.
Am Anfang ist es die Spannung im Leben von Violeta, am Ende ihre Reflexionsfähigkeit und Entschlossenheit, mit der sie Entscheidungen trifft, die einen das Buch nicht aus der Hand legen lassen. Ein netter Twist ist auch, was erfahrenen Allende-Leser*innen auffallen dürfte: Bei Violeta handelt es sich um eine Nichte der ebenfalls beeindruckenden Clara del Valle (deren Leben in Allendes Roman Das Geisterhaus thematisiert wird). Alles in allem bietet Violeta eine spannende Geschichte, einen interessanten Einblick in die politische Historie Perus (insbesondere zu Frauenrechten) sowie eine einzigartige Charakterentwicklung von einer klugen, zu einer zusätzlich starken und entschlossenen Frau.
von Hannah Deininger
Isabel Allende
Violeta
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
Suhrkamp 2022
397 Seiten
26,00 Euro