Auf den Spuren der „Schwabenkinder“
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Content Warning/Inhaltswarnung: (sexualisierte) Gewalt, Vergewaltigung
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Nur mit dem Nötigsten und einem Papagei im Gepäck begibt sich die 90-jährige Edna auf eine beschwerliche Reise über die Alpen, um etwas gutzumachen, das fern in den dunklen Zeiten ihrer Kindheit begonnen und sie seitdem ihr Leben lang begleitet hat. Edna hatte sich aus der Welt schon lange in ihr eigenes Heim zurückgezogen, als sie in der Zeitung das Gesicht des Mannes erkennt, mit dem sie in ihrer Kindheit eine enge Freundschaft verband. Es ist ein Moment, in dem sich eine Tür öffnet, eine Möglichkeit der Wiedergutmachung. Edna beschließt, sich mit ihrem Papagei Emil auf den Weg zu machen, um Jacob, den Freund ihrer Kindertage, im Krankenhaus in Ravensburg aufzusuchen und ihm etwas zurückzugeben, was ihm gehörte. Edna folgt denselben schicksalsreichen Pfaden, den beschwerlichen Bergstraßen, über die sie vor langer Zeit ihre Heimat verlassen hatte, als sie von ihren Eltern an einen schwäbischen Großbauern verkauft worden war. Als wir uns die Welt versprachen erzählt von einem Mädchen, das wie hunderte andere Kinder, den sogenannten „Schwabenkindern“, von ihrer bettelarmen Familie aus Südtirol fortgeschickt wurde, um als günstige Arbeitskraft jenseits der Alpen zu schuften – ein Phänomen, das noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts existierte.
In zwei ineinander verwobenen Erzählsträngen folgt man der kleinen Edna auf dem Weg über die Berge hinein in ein Leben, das von Misshandlung gezeichnet ist. Die Protagonistin erlebt die Schrecken des vollkommenen Ausgesetztseins und der Machtlosigkeit gegenüber der Gewalt des Großbauern und seiner Knechte, doch auch die kurzen Momente des Glücks und den Zauber, den ihre kindliche Freundschaft mit Jacob und ihr gemeinsames Geheimnis – der Papagei Emil – in ihr Leben bringt. Die Beziehung der beiden Kinder wird zu einer Quelle, aus der sie Mut und Hoffnung auf ein besseres Leben schöpfen. Ein gescheiterter Fluchtversuch und der schließlich ausbrechende Zweite Weltkrieg graben schließlich eine tiefe Schlucht zwischen Edna und Jacob. Die beiden werden getrennt und verlieren sich aus den Augen.
Die zweite Ebene der Geschichte folgt der mittlerweile alt gewordenen Edna, wie sie entgegen aller Widerstände aus ihrem Umfeld und wider aller Prinzipien der Logik den Marsch über die Alpen antritt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich, welche Strapazen, jedoch auch welche sonderbaren und berührenden Begegnungen Ednas Weg für sie währenddessen bereithält. Mit Hilfe neu geknüpfter Freundschaften schleppt sich Edna bis nach Ravensburg, wo ihre Geschichte abermals eine überraschende Wendung nimmt.
Das Unglaubliche und das Berührende
Was Edna ausmacht, ist ihre Fähigkeit, sich gegen allerlei Widerstände durchzusetzen und das Unmögliche zu vollbringen. Es kommt nicht selten vor, dass die geschilderten Ereignisse und Zufälle zu schön scheinen, um wahr zu sein. Dies fügt sich zwar in das Bild der starrsinnigen, teils naiven und gleichzeitig liebenswürdigen Frau ein, an manchen Stellen begibt man sich jedoch auch an die Grenzen der Glaubwürdigkeit. Die Eindrücke, die aus Ednas Perspektive vermittelt werden, geben Einblick in eine Wahrnehmung der modernen Welt, der sich die Protagonistin so entfremdet zu haben scheint, dass sie für einiges, was sie sieht, kaum passende Begriffe findet. Diese Sicht auf die moderne Gegenwart ist derartig überspitzt dargestellt, dass es schwerfällt, einzuordnen, ob es tatsächlich die Stimme einer 90-jährigen ist, die durch ihr zurückgezogenes Leben erstmalig mit einer neuen Zeit konfrontiert wird. Die Menschen, die Edna auf ihrem Weg begleiten, tragen zu diesem Begegnungserlebnis bei. Es sind zumeist Menschentypen, die für verschiedene – oftmals extreme – Lebensstile Pate stehen und gewisse Aspekte des modernen Lebens vermitteln. Gleichzeitig bilden diese Menschen teleologische Elemente, die auf Ednas Weg platziert wurden, um sie zu ihrer nächsten Station zu begleiten.
Obwohl Ednas Entscheidungen und Aussagen oftmals wenig nachvollziehbar sind, wird ihre Geschichte auf derart einfühlsame und emotionale Art und Weise erzählt, dass man ihr sowohl in die dunklen Tiefen ihrer Kindheit folgt als auch die Lichtblicke und Freuden miterlebt. Man beginnt, sich selbst zu wünschen, dass Edna es schafft und den Weg über die Alpen sowie auch die Schatten ihrer Kindheit bezwingt. Als wir uns die Welt versprachen erzählt von einem Schicksal, das berührt und das den „Schwabenkindern“ eine Stimme verleiht. Ednas Geschichte erlaubt Einblicke in die kleine Welt eines Mädchens, die von Ungerechtigkeiten und fantasievoller Lebenslust geprägt sind, sowie in die Welt einer Frau, die im Alter diese kindlichen Kräfte neu entfesseln kann.
von Anna Schreyer
Romina Casagrande
Als wir uns die Welt versprachen
Aus dem Italienischen von Katharina Schmidt und Barbara Neeb
Fischer Krüger 2021
480 Seiten
22,00 Euro