Die Hölle USA
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Celeste Ng, die schon durch ihren Roman Kleine Feuer überall (Little Fires Everywhere) bekannt wurde, veröffentlichte im letzten Jahr ihren neuen Roman Unsre verschwundenen Herzen. Und wieder geht es um US-amerikanische Werte, deren Ideologisierung und nicht zuletzt um ihren Einfluss auf Familien, Individuen und Biografien.
Der zwölfjährige Noah Gardner, eigentlich meist Bird genannt, wächst in einem Angst und Schrecken verbreitenden Regime auf – und er soll anscheinend Teil der Ursache dafür sein. Denn die USA fahren einen radikalen anti-chinesischen Kurs; China wird für sämtliche Krisen verantwortlich gemacht und Menschen mit asiatischen Wurzeln – sogenannte PAOs (persons of asian origin) – verkörpern das Feindbild im eigenen Land, welches durch das PACT-Gesetz (Preserving American Culture and Traditions) bestimmt wird. Eine Richtlinie, die für Sicherheit und Geborgenheit sorgen soll, in Wahrheit aber Fremdkontrolle und Unterdrückung für Randgruppen oder politisch engagierte Bürger*innen bedeutet. Bird selbst ist das Kind einer PAO, Margrete Miu, und eines Weißen US-Amerikaners, Ethan Gardner. Seine Mutter musste die Familie aufgrund einer Zeile aus einem ihrer Gedichte verlassen – All unsre verschwundenen Herzen – das ohne ihr Wissen zum Slogan der Anti-PACT-Bewegung wurde. Um ihren Mann und Sohn nicht weiter zu gefährden, ging sie deshalb fort, ohne Aussicht auf eine Rückkehr.
Bird will sich jedoch nicht mehr abfinden mit dem Schweigen, dem Wegducken, mit dem nicht über seine Mutter Reden – er will sie finden. Sein einziger Anhaltspunkt, eine Brotkrume, die seine Mutter hinterließ: ein japanisches Märchen, dass sie ihm früher erzählt hatte. So beginnt zugleich Spurensuche und Märchenreise: eine Fahrt in das unbekannte New York, in dem Bird magische Viertel entdeckt, monströsen Menschen begegnet und lernen muss, den rätselhaften Botschaften seiner Mutter, fremden Kompliz*innen und nicht zuletzt seiner eigenen Intuition zu vertrauen. Im Verlauf seiner Reise lernt Bird, dass er aufgrund seines Aussehens ‚anders‘ ist, was in der dystopischen Welt, die Ng ausbreitet, mit ‚in Gefahr‘ gleichzusetzen ist:
„Er begreift, was ihm bisher nicht klar war. Vielleicht war er einst unsichtbar, doch der Zauber ist verflogen – oder er hatte ihn sich ohnehin nur eingebildet. Die anderen sehen ihn, und er begreift, wie klein er ist, wie leicht die Welt ihn in Stücke reißen kann.“
Die Kraft der Geschichte(n)
Ngs Roman ist hochpolitisch. Sich wiederholende Themen, sprachliche Bilder und linguistische Wortspiele sorgen dafür, dass die Lesenden Birds Spurensuche nachvollziehen können, ohne zu weit in der Handlung vorauszublicken. Ng selbst schreibt im Anhang des Buchs, dass es „nicht allzu schwer war, sich PACT vorzustellen, die Rechtfertigungen dafür und die Auswirkungen“. Die USA haben neben vielen anderen Ländern eine langjährige Historie von Unterdrückung von Randgruppen und dem damit einhergehenden Auseinanderreißen von Familien, man denke an den Umgang des Landes mit der indigenen Bevölkerung.
Die Autorin zeigt die Kategorisierung in ‚gute’ und ‚böse’ Ausländer*innen auf: Während in China Town in New York die chinesischen Schilder abgenommen oder übermalt wurden und sich die Leute auf der Straße nicht mehr trauen, ihre Muttersprachen zu sprechen, werben italienische Begriffe im schicken Manhattan für Luxus und Exklusivität.
Doch nicht nur aus der Historie und den erschreckenden Parallelen zwischen Ngs Dystopie und der Realität entsteht eine bemerkenswerte Kraft, sondern vor allem aus den Geschichten, die im Roman erzählt werden. Denn in einem Überwachungsstaat, in dem alles kontrolliert wird, ist das wichtigste Medium das Gesprochene, der sicherste Speicherplatz das Gehirn.
„Wann ist man je fertig mit der Geschichte eines Menschen, den man liebt? Die kostbarsten Erinnerungen dreht man immer wieder um, glättet ihre Kanten, wärmt sie mit der eigenen Glut. […] Wer denkt schon, wenn er sich an das Gesicht eines geliebten Menschen erinnert, der verschwunden ist: Ja, ich habe dich oft genug angesehen, ich habe dich genug geliebt, wir hatten genug Zeit, alles war genug?“
Der Widerstand macht es sich zur Aufgabe, die Geschichten der Menschen zu erzählen, die ihre Kinder aufgrund von PACT verloren haben – und selbst, wenn nur für einen Moment einige Menschen kurz innehalten, einander ansehen und mit ihren Blicken sagen „Ja, auch ich höre es“, dann ist da eine Verbindung, die sich jeglicher staatlichen Kontrolle entzieht.
Trotz einiger Passagen in der Mitte des Romans, die sich beim Lesen etwas langziehen, ist Unsre verschwundenen Herzen spannend geschrieben und hat immer wieder kraftvolle, herzerwärmende sowie -zerreißende Momente. Was bleibt, ist die Schönheit auf der einen und die Macht auf der anderen Seite, die Geschichten und Erinnerungen in sich tragen; und die beklemmende Angst, die eine*n ergreift, wenn man sich die von Ng beschriebene Welt einmal in all ihren Facetten vorstellt.
von Theresa Werheid
Unsre verschwundenen Herzen
Celeste Ng
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
dtv 2022
400 Seiten
25,00 Euro