Die Geschichte einer Familie, die Geschichte eines Landes
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Content Warning/Inhaltswarnung: Folter, Gewalt, Krieg, politische Verfolgung, Tod
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Hoffnung und Ernüchterung, Wut und Vergebung, Flucht und Ankommen – das autobiografische Buch des libyschen Autors Hisham Matar schafft es auf beeindruckende Weise ganz gegensätzliche Gefühle miteinander in Kontakt zu bringen. In Die Rückkehr macht der Autor sein Leben im Exil zum Thema, das vor allem durch die Inhaftierung des Vaters geprägt ist, der sich als Oppositioneller gegen den bis 2011 herrschenden libyschen Diktator Gaddafi einsetzte. Das Buch ist vor allem ein Testament der Unsicherheit, die Matar und seine Familie quält, nachdem der Vater aus Ägypten entführt wird und im gewaltsamen Gefängnis- und Foltersystem des Heimatlandes verschwindet. Wie geht es ihm? Wo wird er festgehalten? Würde er von der Familie wiedererkannt werden oder haben Folter und Gewalt ihn zu einem anderen Menschen gemacht? Ist er überhaupt noch am Leben?
Die Autobiographie beginnt mit der Rückkehr des Autors nach Libyen, nachdem in der Welle des Arabischen Frühlings die Diktatur gestürzt wurde. Von diesem Ereignis ausgehend fragt Matar nach der Vergangenheit seiner Familie und des Landes, blickt in die Zukunft und sucht vor allem eines: seinen verlorenen Vater.
Eine vielfältige Erzählung – und doch bleiben Lücken
Besonders beeindruckend wird das Buch durch die gelungene Verwebung einer sehr persönlichen Familiengeschichte mit der Geschichte Libyens. Dabei werden nicht nur die Erlebnisse des Autors mit der erdrückenden Realität politischer Verfolgung offenbart, sondern das alltägliche Familienleben unter der Last der Diktatur beschrieben. Matar erzählt von der Solidarität der Mütter politischer Gefangener, zeichnet die Wut und den Tatendrang seines jungen Cousins nach, der sich dem bewaffneten Widerstand anschloss und blickt zurück auf die Erlebnisse des Großvaters, der unter der italienischen Kolonisation ähnlich grausame Erfahrungen machte.
All dies schafft das kleine Buch in einer unglaublichen Vielseitigkeit darzustellen. Einige Kapitel muten wie melancholische Reiseberichte an, während andere Teile sachlich die Historie des Landes Libyen aufarbeiten und wieder andere Abschnitte nahe an Spionageromane heranreichen. Trotz dieser Pluralität an Stilen ist klar, dass der Autor sich sicher ist, wohin er die Lesenden leiten will. Die zentralen Themen des Buches, Väter, Söhne und das Schicksal Libyens, gehen in der Vielfalt der Begegnungen und Geschichten, die Matar in seinem Buch erzählt, nicht unter. Schade ist an dieser Stelle, dass vielleicht auch bewusst Leerstellen bleiben. Gerade wenn es um eine weibliche, feministische Sichtweise auf Diktatur, Bürgerkrieg und politische Verfolgung geht, schimmert in Die Rückkehr nur an einigen Stellen durch, dass zu diesem Thema viel mehr zu sagen wäre. Leider wird die Erzählung doch an vielen Stellen zu dem, was in der Geschichtsschreibung moderner Nationalstaaten üblich ist: Die Geschichte eines Landes wird geprägt durch die Entscheidungen mächtiger Männer, die die Geschicke lenken und um politischen Einfluss und persönliche Macht ringen. Ich hätte mir eine deutlichere Differenzierung von Matar gewünscht, gerade da er in seinem Buch eine sehr feinfühlige und aufmerksame Art unter Beweis stellt, mit historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen umzugehen.
Haltung und Hoffnung gegen die Realität politischer Verfolgung
Die Rückkehr ist gekennzeichnet durch eine sehr klare Haltung, die der Autor gegenüber dem diktatorischen Regime in Libyen vertritt. Eindrucksvoll beschreibt er sein politisches Engagement für Freiheit und Menschenrechte. Das Buch gibt der grausamen Gewalt von politischer Verfolgung Raum, stellt aber auch immer wieder bewusst den Austausch über politische Gruppierungen hinweg und Ansätze der Versöhnung in den Mittelpunkt. Dem Autor gelingt es, die eigene Wut und Verzweiflung ebenso zu artikulieren wie die Hoffnung auf einen zukünftigen gesellschaftlichen Frieden in seiner Heimat.
Diese optimistische Einstellung gewinnt gerade dadurch an Stärke, dass die Lesenden den Schmerz des Lebens im Exil und der Entführung des Vaters von Matar eindrücklich vorgeführt bekommen. Die psychische Gewalt, die die Diktatur so auch auf unliebsame Personen ausüben kann, die sich nicht im Land aufhalten, beschreibt Matar in aller Deutlichkeit. Gerade die kleinen Hoffnungsmomente, etwas über das Wohlbefinden des Vaters zu erfahren, werden zur Folter, weil die endgültige Gewissheit stets außer Reichweite bleibt. Die verzweifelte Sehnsucht wird in einer wunderbaren, bildhaften Sprache beschrieben, die immer wieder originelle Bilder erschafft: „Ich sah dem Mann direkt ins Gesicht, als er das erzählte, nicht weil ich unbedingt wissen wollte, wie ihm mein Vater vorgekommen war, sondern weil mich plötzlich das Verlangen packte, seine Augen zu besitzen, die Augen, mit denen er meinen Vater gesehen hatte, sie ihm aus dem Kopf zu pflücken und in meinen zu setzen.“
Am Ende bleibt von Matars Buch eine schmerzvolle Hoffnung zurück. Einerseits hat er über die 283 Seiten hinweg feinfühlig die unbezwingbare Menschlichkeit auch im Angesicht von Leid gezeigt. Andererseits aber reicht ein kurzer Blick auf die aktuellen Geschehnisse in Libyen, auf ein Land, das tief in einem Strudel aus Gewalt und Bürgerkrieg steckt, um zu verstehen, dass die langanhaltenden, drastischen Folgen aus Kolonialisierung und Diktatur schwer überwindbar bleiben. Dennoch lohnt sich das Lesen, nicht nur, um über die grausame Realität von politischer Verfolgung und die Geschichte Libyens zu lernen, sondern auch, um den Glauben an eine bessere Welt im Angesicht von Krieg und Grausamkeit nicht zu verlieren.
von Klara Brachmann
Hisham Matar
Die Rückkehr – Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
btb Verlag 2022
283 Seiten
12,00 Euro