Auf der Kippe
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Da diese Rezension den dritten Band der Reihe bespricht, kann sie Spoiler für frühere Bände enthalten.
Um darüber sprechen zu können, warum das dritte Buch der Neon Genesis Evangelion – Perfect Edition nochmal über die ersten beiden Bände hinauswächst, braucht es zuerst eine kleine Erklärung zum gleichnamigen Anime. Hideaki Anno wollte nämlich ursprünglich eine recht traditionelle Mecha-Serie machen. Er selbst war ein großer Fan des Genres und folgte in Evangelion deswegen auch für eine Weile vielen Tropen – bis zu Folge 16. Vor der Produktion Evangelions war Anno schwer depressiv und begann, sich mit der menschlichen Psyche zu beschäftigen. Vor allem Freud und seine Theorien faszinierten ihn so sehr, dass er sich entschied, mitten in der Produktion der Serie die Handlung stark zu verändern. Aus einer recht traditionellen Geschichte (mit zugegeben sehr komplexen religiösen Referenzen) wurde so die beeindruckend tiefe Psychoanalyse, durch die Evangelion seinen schon legendären Ruf genießt. Sadamoto hat mit seiner Manga-Adaption natürlich den Vorteil, dass er im Gegensatz zu der Anime-Produktion bereits wusste, wo die Geschichte hinführen würde. Dadurch ist der Wechsel nicht so extrem wie im Anime, stattdessen köcheln die psychologischen Themen lange vor sich hin, bevor sie in diesem Band endlich überkochen.
Transgenerationales Trauma
Im Fokus liegen hier vor allem Shinjis tiefliegende Traumata. Zwar beginnt der Band mit einer recht schönen Party, bei der der eigentlich sehr introvertierte, ruhige Shinji unter Leute kommt, aber die Harmonie hält nicht lange. Neue Engel tauchen auf, Shinji wird mit seiner äußerst traumatischen Vergangenheit konfrontiert und zum Schock aller anderen Piloten wird ihr Schulkamerad Toji in das Evangelion-Programm aufgenommen. Während all das passiert, deckt Doppelagent Kaji auf, dass die Organisation hinter den Evangelions, NERV, sehr viel einflussreicher ist, als es zunächst schien und es gibt erste Andeutungen darauf, was es mit dem kataklystischen Second Impact wirklich auf sich hatte.
Künstlerisch ist dieser Band nochmal eine Steigerung: Charaktere und Landschaften sind gewohnt ikonisch, aber die Leichtigkeit, mit der Sadamoto sowohl die sehr menschlichen Momente zwischen Rei und Shinji in der ersten Hälfte als auch die sich immer weiter steigernde Dramatik in der zweiten Hälfte kommuniziert, ist schlicht beeindruckend.
Der Band endet schließlich auf einer emotional sehr heftigen Note. Dass Shinji ein Opfer emotionalen Missbrauchs ist, war schon in den anderen Bänden klar, aber diese Klimax ist im Kontext der Handlung nur schwer zu ertragen. Als Fundament für alles weitere und als erster gigantischer Riss in der sprichwörtlichen Mecha-Manga-Maske ist das Ende aber absolut perfekt. Waren die ersten beiden Bände schlicht hervorragend, ist dieser der erste, den ich als Meisterwerk beschreiben würde.
von Felix Ritzmann
Yoshiyuki Sadamoto
Neon Genesis Evangelion – Perfect Edition 3
Aus dem Japanischen von Antje Bockel
Carlsen 2023
368 Seiten
18,00 Euro