Und die Jahre vergingen
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Content Warning/Inhaltswarnung: Folter, Gewalt, Vergewaltigung
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Der Wal erschien bereits 2004 im koreanischen Original, doch erst jetzt zieht der Roman auch international Aufmerksamkeit auf sich. So stand er dieses Jahr auf der Shortlist des International Booker Prize. Und das, meiner Meinung nach, völlig verdient.
Cheon Myeong-kwan erzählt das Leben zweier Frauen: der ehrgeizigen und gewieften Kumbok und ihrer außergewöhnlich starken und feinfühligen Tochter Ch’unhui. Recht chronologisch, aber immer wieder zwischen den Leben der beiden Frauen wechselnd, erzählt das Buch von ihren Erfolgen, Rückschlägen, Verwirrungen und Glücksgriffen – von der Geburt bis zum Tod. Und das verflochten mit allerhand Nebenfiguren, die durch ihre persönlichen Geschichten wiederum Einfluss auf das Leben der beiden Frauen nehmen. Vor allem Kumbok kommt in ihren frühen Jahren viel herum, geht unterschiedliche Beziehungen ein, verfolgt ein Geschäft nach dem anderen und verlässt einen Ort, sobald er ihr nichts mehr bieten kann. Dabei stets fasziniert und zugleich verfolgt von dem Bild eines Wals, den sie einmal am Meeresufer auftauchen sah. Der Roman selbst fühlt sich durch diese gewisse Rastlosigkeit an wie ein ganzes Leben, mit all seinen Haltestellen und Wegbegleiter*innen und wird zu einer wirklich fesselnden Reise. Zu ihrer Tochter Ch’unhui, dem stummen, aber starken Mädchen, pflegt Kumbok ein eher distanziertes Verhältnis. Von Freundinnen und Partnern Kumboks großgezogen, wird aber auch sie im Roman ihr Leben bis zum Tod bestreiten.
Das Gerede der Leute
Cheon bricht bewusst mit dem Bild eines zuverlässigen Erzählers. Vor allem bei den Nebenhandlungen betont er, dass die Leute gerne etwas dazuerfinden. Er nimmt Ereignisse vorweg, entschuldigt sich für vulgäre Ausdrucksweisen oder stellt sich selbst die Frage der Authentizität einiger Begebenheiten. Eigens erdachte Details revidiert er nur wenige Sätze später und lässt so eine der ältesten Fragen der Erzählkunst aufleben: Was können wir der Erzählstimme glauben? Wo steckt die Wahrheit in diesem Text? Steckt überhaupt ein Funke von ihr zwischen diesen Zeilen?
Doch nicht nur die Grenze zwischen dem Erzähltem und Erfundenen lässt der Autor verschwimmen, auch die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten, den Geschlechtern, zwischen Mensch und Tier, Realität und Traum und zwischen Wollen und Müssen – denn jedes noch so kleine Ereignis erscheint schicksalhaft für die beiden Protagonistinnen.
„[D]as ist eine unheimliche Geschichte“
Ich muss zugeben, dass ich am Anfang Probleme hatte, in das Buch einzusteigen, was vor allem daran lag, dass sich bereits zum Anfang recht grausame Szenen abspielten und die beiden Hauptfiguren noch etwas vage schienen. Doch das legte sich ziemlich schnell, sobald Cheon tiefere Einblicke in Kumboks und Ch’unhuis Welt bot – ab da wurde Der Wal zum Pageturner für mich. Durch die Lebensgeschichte von Mutter und Tochter behandelt Cheon Themen wie den Koreakrieg, die kommunistische Ideologie des Nordens, Modernisierung, Transidentität, Klassenkampf oder stereotype Rollenbilder zwar eher nebensächlich, aber nie zu platt. Der Roman enthält viele surreale Elemente, auch Kumbok und Ch’unhui tragen unwirklich erscheinende Eigenschaften an und in sich. Ihre Geschichte gleicht einem Märchen – und zwar einem von der Art, die auch vor Tragödien keinen Halt macht. Trotz ihres surrealen Charakters schafft es der Autor, die Figuren greifbar und echt wirken zu lassen. Sie dienen nicht nur als bloße Schablonen, sondern geben so viel Raum zum Einfühlen, Abstoßen oder Verstehen. Dabei appelliert Cheon an die Lesenden, nicht alles immer deuten zu müssen, sondern Kumbok und Ch’unhui in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren:
„Die Wahrheit löst sich so leicht in nichts auf wie ein Eiswürfel, der in der Hand zerschmilzt. Ist es nicht vielleicht der einzige Weg, sich der Wahrheit zu nähern, wenn man all diese Erklärungs- und Deutungsversuche auf unbestimmte Zeit aussetzt? Wenn man diese Frau [Ch’unhui] nicht einzusperren versucht in vereinfachende, starre Kategorien, sondern sie loslässt, sie einfach verwehen lässt wie den Wind, der einst durchs Tal von Nambaran gestrichen war?“
Der Wal ist eine wundersame, emotionale, humorvolle, einfühlsame, surreale, drastische und erschütternde Leseerfahrung, die ich wirklich nicht missen möchte. Cheon brilliert als ein großartiger Erzähler, der es vollbringt, zwei märchenhafte Lebensgeschichten mit so viel Seele und Gefühl zu füllen. Eine Reise, die sich lohnt.
von Theresa Werheid
Cheon Myeong-kwan
Der Wal
Aus dem Koreanischen von Matthias Augustin und Kyunghee Park
Weissbooks 2022
512 Seiten
28,00 Euro