Folge nicht dem Kaninchen!
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Content Warning: Drogen, Freiheitsberaubung, Folter, Gewalt, Kannibalismus, Menschenhandel, Prostitution, psychischer und physischer Missbrauch, Tierquälerei, Tod, Vergewaltigung
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Alice im Wunderland-Adaptionen gibt es mittlerweile wie Sand am Meer – so bietet die Geschichte durch ihr Chaos und die fantastischen Elemente doch reichlich Stoff. Die Autorin Christina Henry nimmt sich der düsteren Seite dieser Vorlage an und formt sie zu einer Horrorgeschichte, die zahlreicher Triggerwarnungen bedarf. Den Leser*innen begegnen dadurch bereits auf den ersten Seiten verstörende Inhalte, die im Laufe des ersten Bandes der Trilogie stetig zunehmen.
Die Neuerzählung beginnt in einem dunklen Hospital, in dem Alice seit zehn Jahren nach einem traumatischen Erlebnis festsitzt. Ihr einziger Kontakt – nur durch ein Mäuseloch zwischen den Zellentüren zu erreichen – ist der Axtmörder Hatcher. Zusammen gelingt ihnen durch ein nächtliches Feuer die Flucht, doch von Freiheit kann hier keine Rede sein: Mit ihnen flieht ein dunkles Wesen, was eng mit Alice‘ traumatischer Vergangenheit verwoben zu sein scheint. Nur, wenn sie dieses Ungeheuer besiegen kann, werden sich ihre Erinnerungslücken schließen und offenbaren, was das weiße Kaninchen ihr wirklich angetan hat…
„Ein Wunsch hat Macht.“
Alice und Hatcher gelangen in die alte Stadt, die durch Gewalt regiert wird. Die Mächtigsten – allen voran Grinser, das Walross, der Zimmermann, die Raupe und das Kaninchen – haben den Ort unter sich aufgeteilt und herrschen mit unterschiedlicher Brutalität über die dort lebenden Individuen. Zusammen mit den beiden Hauptprotagonist*innen bilden sie die zentralen Figuren des Buches. Dabei werden die Tierfiguren des Originals als Menschen dargestellt, die Sklavenhandel, Tierquälerei und Folter betreiben. Alice‘ und Hatchers Weg führt sie von Distrikt zu Distrikt und somit immer wieder zu den Machthabenden. Während Grinser ihnen eine Hilfe zu sein scheint (natürlich nur für seine eigenen Zwecke), sind die anderen Männer weitaus gewalttätiger.
Doch auch Alice‘ und Hatchers Reise gleicht einem Rachefeldzug, den man sonst nur aus Splatterfilmen kennt. Es vergeht kein Kapitel, in dem nicht jemand ein blutiges Ende findet – manchmal mehr und manchmal weniger verdient. Sicherlich hätten hier auch ein paar weniger Tode der Geschichte keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Stellenweise hatte man das Gefühl, es müsste noch etwas anderes passieren. Alice‘ Entwicklung und die Beziehung zu Hatcher sind hingegen sehr gut gelungen und bilden für mich das Herzstück des Bandes. Die Dialoge, ihre gegenseitige Rücksichtnahme und Alice‘ Gedankenwelt kontrastieren die meist brutalen Inhalte und bieten eine gute Abwechslung.
Als das Ziel der (Anti-)Heldenreise erreicht ist (und somit der Höhepunkt des Buches), flacht die aufgeladene Stimmung schnell ab. Die Auflösung des Konfliktes folgt abrupt und ohne einen großen Showdown. Eine neugewonnene Fähigkeit drängt zudem Alice’ ungeheure Entwicklung und das Überkommen ihres Traumas in den Hintergrund:
„Und dass sie keine Angst mehr gehabt hatte, hatte ihm Angst eingejagt, denn ein Mädchen, das keine Angst hatte, war eines, das ihm möglicherweise Schaden zufügen könnte.“
Und wenn sie nicht gestorben sind…
Christina Henry fängt das Chaos und die stimmungsvollen Elemente von Lewis Carolls Alice im Wunderlandund Alice hinter den Spiegeln ein und macht daraus eine teilweise gelungene Neufassung. So ist die Handlung zwar etwas repetitiv, doch der einnehmende Schreibstil der Autorin sowie die Entwicklung der Hauptprotagonist*innen machen dieses Manko wieder wett.
Wer sich also nach einer düsteren Erzählung rund um Alice, den Märzhasen und die Grinsekatze sehnt, wird von Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland nicht enttäuscht werden. Auch endet die Geschichte mit diesem Band nicht: Die Handlung wird in einem weiteren Buch und einer Kurzgeschichtensammlung fortgesetzt. Doch auch diese sind sicherlich nichts für schwache Nerven!
von Celine Buschbeck
Christina Henry
Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland
Aus dem amerikanischen Englisch von Sigrun Zühlke
Penhaligon 2020
352 Seiten
18,00 Euro