Queer people have always been here
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Im NS-Dokumentationszentrum München war vom 7. Oktober 2022 bis zum 21. Mai dieses Jahres die Ausstellung To Be Seen. Queer Lives 1900-1950 zu sehen. Mit Hilfe des gleichnamigen Begleitbands ist die Ausstellung auch weiterhin auf Papier „besuchbar“. Die Diversität queerer Lebensrealitäten während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland wird anhand fünf thematischer Kapitel zu Selbstermächtigung, Bewegungen, Sexualwissenschaft, Körperbildern und dem Leben in der Diktatur aufgezeigt. Sie folgen alle einem schematischen Dreischritt. Zuerst werden das Aufbrechen von Geschlechterrollen sowie die Emanzipationsbewegungen von homosexuellen und trans* Personen anhand zahlreichen Quellenmaterials intensiv aufgearbeitet. Weiter werden zeitgenössische Künstler*innen und ihre Werke vorgestellt, die die Vermächtnisse queerer Geschichte immer wieder ausloten, den Kanon hinterfragen und Perspektiven einnehmen, die bisher zu wenig Beachtung gefunden haben. Abschließend verhandeln Essays mehrerer Autor*innen das jeweilige Kapitel in teils zusammenfassender und kontextualisierender Weise oder auch durch ganz neu aufgezeigte Blickwinkel.
Sichtbarkeit statt Voyeurismus
Die Herausgebenden Karolina Kühn und Mirjam Zadoff sind sich ihrer Verantwortung, Repräsentation so selbstbestimmend wie möglich zu gestalten und ein Zur-Schau-Stellen zu vermeiden, bewusst und werden dem auch gerecht. Die nuancierte Widmung vieler verschiedener Facetten der queeren Geschichte lässt sich keinesfalls kurz zusammenfassen, da der Begleitband der Ausstellung mit einer Fülle an Wissen aufwartet, die ihresgleichen sucht. Queere Personen, die während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland für ein freies Leben kämpften, werden biographisch vorgestellt und ihr Beitrag für queere Rechte veranschaulicht. Die inhärente Kritik an Bewegungen und Personen wird jedoch direkt genauso mitverarbeitet. Die Diskrepanz des Instituts für Sexualwissenschaft als Zufluchtsort für trans* Personen sowie die Ausstellung des „Transvestitenscheins“, um Verhaftungen für das Tragen gegenderter Kleidung entgehen zu können, bedeuten gleichzeitig für die Personen auch eine Abhängigkeit vom Institut und verwehren eine Anonymität dem Staat gegenüber. Homosexuelle Männerbünde, die eine „männliche Ästhetik“ idealisieren und auf Antifeminismus und Antisemitismus basieren, sowie Personen wie Elisàr von Kupffer, Adolf Brand und Ernst Röhm reihen sich ein in eine rassistische und frauenfeindliche Homosexualität, die den bis heute andauernden internen Kampf der queeren Gemeinschaft aufzeigt. Vermächtnisfragen reichen von Weimarer Aktivist*innen über die NS-Diktatur bis in die heutige Zeit und werden beispielsweise an der Diskussion über den Umgang mit dem Symbol des Rosa Winkels deutlich. All diese und weitere Spannungsverhältnisse werden in ihrer Vielseitigkeit und ihren Widersprüchen differenziert dargestellt.
Ein Leseerlebnis wie eine besondere Führung im Museum
Ein paar der Essays sind im Ton merklich wissenschaftlich geprägt und somit etwas schwerer verständlich bzw. erfordern eine gewisse Konzentration. Diese ist jedoch leicht aufzubringen, da die Sprache dennoch nachvollziehbar ist und die verschiedenen Medienarten – Quellenmaterial aus Fotografien und Dokumenten, Kunst und Text in Aufsatzform – stets Abwechslung mit sich bringen. Außerdem wird man als Leser*in durch begleitende Einleitungen zu den Kapiteln sowie eine umfassende Einführung zu Beginn des Bandes und einem abschließenden Epilog stets sachkundig durch den Band geführt. Der Ausstellungsband ist komplett zweisprachig, auf Deutsch und Englisch verfasst, sodass einem breiten Publikum die Möglichkeit gegeben wird, von der akribischen Arbeit der Kurator*innen zu profitieren. Für To Be Seen. Queer Lives 1900-1950 ist eine nachdrückliche Empfehlung auszusprechen, da der Band für alle eine Bereicherung darstellt. Personen, die sich ganz neu mit queerer Geschichte befassen, werden kompetent an die Hand und mit verschiedenen Medien durch die Zeit und die Diversität der Lebensrealitäten genommen. Auch Leser*innen, die bereits versiert in LGBTIQ*-Themen sind, können hier noch eine Fülle an weiterem Wissen erlangen oder bereits bekannte Bruchstücke fundieren. Um mit einem Zitat Michaela Dudleys aus ihrem Essay zu schließen: „Die Protagonist*innen von damals, aufgrund ihrer sexuellen [und geschlechtlichen] Selbstbestimmung erbarmungslos verfolgt, erhalten damit nun die Anerkennung, die sie verdienen“.
von Michaela Minder
Kühn, Karolina/Zadoff, Mirjam (Hrsg.)
To Be Seen. Queer Lives 1900-1950
Hirmer 2023
400 Seiten
38,00 Euro