Ein Buch übers Warten
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Murad, dessen Name „der große Wunsch“ bedeutet, wünscht sich nichts sehnlicher, als seine Tochter Naima wiederzusehen. Sie ist nach Syrien gereist, offenbar aus Liebe zu einem Mann, den sie im Internet kennengelernt hat; einem Glaubenskrieger. Murad versteht die Welt nicht mehr und fährt selbst in das kurdisch-syrische Grenzgebiet, um Naima zu finden und hoffentlich zur Vernunft zu bringen. Wie konnte sie genau in das Land verschwinden, das er einst verlassen hat? Ist ihr egal, dass der Vater ihr in Deutschland ein besseres Leben schenken wollte?
In einem kleinen Landgasthof wartet Murad auf Nachrichten von Boten, die er bezahlt hat, um Naima zu finden. Doch mit jedem Klingeln seines Handys wachsen die Zweifel: Sind das wirklich die Augen seiner Tochter, die ihn aus dem Bild der verschleierten Frau anblicken? Ist das tatsächlich ihre Stimme, die in einem Audiotagebuch von schrecklichen Erlebnissen erzählt? Wie kann ein Mensch einem so wichtig und gleichzeitig so fremd sein? Das Warten zermürbt Murad.
„Die Zeit der Zeiger hatte sich losgelöst von der Zeit seiner Schritte“
Um sich abzulenken, erkundet er die Gegend. In den Landschaftsbeschreibungen zeigt sich die große erzählerische Kraft des Autors. Mit jeder Zeile wird deutlich, dass Sherko Fatah das Gebiet kennt, über das er schreibt. Die tiefen Schluchten, die hohen Berge und der Wasserfall, dessen Wasser „nach Himmel“ schmeckt, stehen im Kontrast zu Murads gleichförmigen Tagen. Genauso eindrucksvoll wie die Natur beschreibt der Autor, wie sein Protagonist derselben ausgeliefert ist: Das Buch beginnt bereits mit der detaillierten Schilderung seiner Durchfallerkrankung.
Der große Wunsch ist eine Erzählung, die vielmehr von der Sprachgewalt des Autors vorangetrieben wird als von ihrer Handlung. Der*die Lesende spürt Murads Verlassenheit, die „förmlich in ihm aufzuplatzen“ scheint und verfolgt seine kaum zu entwirrenden Gedankenstricke in Form von langen, verschachtelten Sätzen. Es ist ein Buch, das Durchhaltevermögen erfordert. Beim Lesen verliert man leicht den Faden und vielleicht auch die Lust, noch länger auf den nächsten Hinweis zu warten. Am Ende bleibt ein beklemmendes Gefühl, denn man kann sich den Gedanken und Empfindungen Murads nicht entziehen.
von Hannah Conrady
Sherko Fatah
Der große Wunsch
Luchterhand 2023
381 Seiten
25,00 Euro