„Ich habe Axel Peschke einunddreißig Tage gekannt […] oder ein ganzes Leben“
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Stephan Lohse erzählt in seinem queeren Coming-of-Age-Roman, Das Summen unter der Haut, auf einfühlsame Weiseeine Geschichte über die erste Jugendliebe und schafft es ihren Zauber einzufangen. Hamburg, 1977: Die Welt des vierzehnjährigen Julle ist nach diesem Sommer nicht mehr dieselbe. Er lernt den neuen Mitschüler Axel kennen und somit auch das Gefühl, wenn die Anwesenheit einer anderen Person die eigenen Gedanken zu einem Summen unter der Haut werden lässt. Die beiden verbringen einen der letzten unbeschwerten Sommer der Kindheit miteinander. Ein Freibadbesuch nach dem anderen, ein Abenteuer durch eine mysteriöse Entdeckung im Wald und eine dabei entstehende innige Freundschaft. Dennoch ist ihnen nur dieser eine Sommer vergönnt, doch dieser reicht aus, um alles zu verändern.
„Eine […] Vergangenheit, wie sie vielleicht nie war, aber hätte sein sollen“
Lohse schafft eine Gradwanderung der historischen queeren Erzählung. Viel Identifizierungspotential bieten Julles zwecklose Versuche des „normalen Gehens“ vor dem Spiegelschrank im elterlichen Schlafzimmer. Weiter führt Julle eine Liste im Kopf, mit der er sich Aspekte seines Selbst verbietet, um nicht aufzufallen und wie die anderen zu erscheinen. Kein Sitzen mit überschlagenen Beinen, kein Reden durch die Nase und besonders Jungs nicht zu lange ansehen. Diesem Zwang der Heteronormativität, unter dem ein Junge bereits mit 14 Jahren leidet, tritt Lohse zum einen entgegen mit einer Schwester, die zwiegespalten bezüglich Julles Homosexualität ist, denn „sie freut sich, einen schwulen Bruder zu haben, ist aber neidisch, weil sie selbst nicht lesbisch ist“. Zum anderen eine ältere Bekannte der Familie, die sich als queer offenbart und zur Bezugsperson wird. Klassenkameraden, die keine negativen Reaktionen auf ein Coming-Out haben. Ein queeres Aufwachsen in der Bundesrepublik der 70er Jahre – „eine[…] Vergangenheit, wie sie vielleicht nie war, aber hätte sein sollen“.
Bereicherung für queere deutsche Literatur
Das Summen unter der Haut bringt Selbstverständlichkeit sowie Leichtigkeit – trotz Anerkennung der inneren Kämpfe – für eine junge schwule Liebe und das Erkunden der eigenen Identität in die deutsche Literatur.
Die atmosphärische Stimmung eines Sommers, in dem sich Hamburg wie eine Kleinstadt anfühlt, man die Freibadfliesen regelrecht unter sich und den Wind des Waldes über die Haut streifen spürt, erschafft Lohse so eindrucksvoll, dass die Lektüre zum Träumen vom Sommer in jeder Jahreszeit einlädt.
von Michaela Minder
Stephan Lohse
Das Summen unter der Haut
Insel Verlag 2023
176 Seiten
20,00 Euro