„Not for everybody – for Mad Men only!”
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Was passiert, wenn man sich auf eine Reise ohne Ziel begibt? Auf die Suche nach dem eigenen Ich, nach dem Sinn des Lebens? Goyo Monteros Inszenierung des Tanzstücks „Der Steppenwolf” gibt darauf keine Antwort, wirft dafür aber umso mehr Fragen auf, die die Zuschauer*innen noch lange beschäftigen sollen.
Der Ballettdirektor des Staatstheaters Nürnberg macht immer wieder mit aufwändigen, modernen Inszenierungen großer Weltliteratur von sich reden. Dieser Tage ist es „Der Steppenwolf”, ein Ballett auf der Grundlage des Romans von Hermann Hesse – ein Stück, das bislang kaum choreographisch bearbeitet wurde. Am 16. Dezember wurde in Nürnberg Premiere gefeiert.
Im Mittelpunkt steht Harry Haller, eine tief gespaltene Figur, die einerseits Bildungsbürger, andererseits ein Außenseiter, ein Wolf ist. Er schwankt zwischen dem Interesse an schönen, kulturellen Gütern und dem Wunsch nach einer politischen Revolution. Diese Zwiespältigkeit lässt Harry langsam verzweifeln, er fühlt sich immer einsamer. Suizid bestimmt seine Gedanken und er muss sich mit seiner wachsenden Depression auseinandersetzen. Eines Tages findet sich Harry in der “Hölle” wieder, in der nichts mehr ist, wie es scheint…
Obwohl Hesses Werk die Grundlage des Stücks ist, erzählt Montero nicht einfach die literarische Vorlage nach, sondern fokussiert sich auf die innere Spannung und Unsicherheit des Protagonisten. Montero wählt für seine Interpretation des Werks den Weg der Performance Art – und lädt das Publikum dadurch ein, Teil der Aufführung zu werden.
Die Atmosphäre des multidisziplinären Stücks ist düster, bedrückend. Das Publikum wird mit einer Welt konfrontiert, die an das Kuriositätenkabinett ebenso wie an Szenen aus Vikings oder Dantes Inferno erinnern, ein Trip direkt durch die Hölle – „for Mad Men only”. Passend dazu wird das Stück von düster-atmosphärischer, bisweilen auch elektronischer Tanzmusik begleitet. Doch auch die Tänzer*innen selbst tragen zur Musik bei, schlagen Äxte im Rhythmus und singen sogar selbst. Gesprochene Textelemente geben dem Stück einen Rahmen und ordnen die Tanzeinheiten ein.
Die Figuren muten animalisch an, steigern ihre Handlungen auf der Bühne, bis die Performance am Rande des Wahnsinns kratzt und die Zuschauer*innen immer stärker das beklemmende Gefühl der Verzweiflung erreicht. Eine besondere Rolle kommt dabei auch dem „anonymen Zuschauer” zu, der in einen Schutzanzug gekleidet, weiß geschminkt und mit einem roten Schild auftretend eine Gefahr symbolisiert, die pandemische Krankheiten oder auch Tod und Tatortreinigung assoziieren lassen. Victor Ketelslegers interpretiert die Rolle sowohl auf schauspielerischer als auch auf tänzerischer Ebene hervorragend und lässt die bedrohliche Kälte und Stärke seiner Figur spürbar werden.
“Es kostet fast nichts – nur den Verstand”
Während die Kostüme der übrigen Tänzer*innen eher farb- und genderneutral gehalten werden, stechen vor allem der Anzug und später die rote Hose des anonymen Zuschauers ins Auge. Dem Wolf in Pelzmantel und Wolfsmaske kommt ebenso wie einem komplett in einen enganliegenden Ganzkörperanzug gekleideten Wesen, das als Sinnbild für eine kraftvolle Gefühlswoge gedeutet werden kann, eine besondere Bedeutung zu. Besonders die Tiermasken des Ensembles sind ein Blickfang – indem die Konstruktion den Kopf des*r jeweiligen Tänzer*in nicht verdeckt, lässt sie an hermaphroditische Wesen denken.
Das Bühnenbild bewegt sich ständig und interagiert mit den Tänzer*innen sowie mit dem Publikum. Die beweglichen Einzelelemente mit Türen, Gittern und Lichtelementen werden umgebaut, verschoben und gedreht vor einer gigantischen Leinwand, die durch eine live filmende Kamera zur Interaktion genutzt wird. Das Publikum wird Teil des Bühnenbilds und erlebt live aus verschiedensten Perspektiven auf der gigantischen Leinwand das Geschehen vor, auf und hinter der Bühne.
Doch nicht nur die Kamera bezieht das Publikum mit ein. Montero nutzt den gesamten Raum und auch das Parkett als Bühne. Inspiriert ist die Inszenierung von der Performance Art Joseph Beuys’ – so spielt das Ballett teilweise auf berühmte Aktionen des Künstlers an; man denke zum Beispiel an „I like America and America likes me”. Für Goyo Montero ist Beuys der Inbegriff des Steppenwolfs, der künstlerische Selbsthinterfragung radikal und konsequent betrieb. Die Zerrissenheit zwischen Künstler und Alltagsmensch, zwischen Wolf und Mann, ist bei Beuys ebenso gegeben wie bei Harry Haller.
Goyo Monteros „Der Steppenwolf” kombiniert verschiedene Kunstformen und versucht viele Interpretationsräume offenzulassen. Und dieses Konzept zeigt seine Wirkung: Nach einer Vielzahl von Überraschungen bleiben die Zuschauer*innen nach dem endgültigen Senken des Vorhangs verblüfft und einigermaßen verstört zurück. Der wilde Ritt durch die diversen Stimmungsbilder macht betroffen und zeigt die Emotionen der zerrissenen Hauptfigur deutlicher als so manches textlastigere Film- oder Theaterstück. Die Inszenierung ist anspruchsvoll und lässt das Publikum keinen Moment zur Ruhe kommen – wer aber kein klassisches Ballett erwartet und sich auf die besondere Kunstform der Performance Art einlassen möchte, ist dieser Tage im Staatstheater Nürnberg bestens aufgehoben.
Die nächsten Aufführungen finden am 20.12., 22.12. und 25.12.2023 statt; im neuen Jahr ist das Stück noch am 07.01., 12.01., 14.01., 19.01., 21.01., 23.01. und am 02.02.2024 zu sehen.
von Nina Schäfer und Theresia Seisenberger
Bild oben links: Òscar Alonso, Victor Ketelslegers, Ensemble Staatstheater Nürnberg Ballett (© Jesús Vallinas)
Bild oben rechts: Kade Cummings (© Jesús Vallinas)
Bild Mitte links: Victor Ketelslegers, Stella Tozzi, Òscar Alonso (© Jesús Vallinas)
Bild Mitte rechts: Ensemble Staatstheater Nürnberg Ballett (© Jesús Vallinas)
Bild unten links: Victor Ketelslegers (© Jesús Vallinas)
Bild unten rechts: Alisa Uzunova (Video), Ensemble Staatstheater Nürnberg Ballett (© Jesús Vallinas)