„Ich wär‘ jedenfalls gern dabei, wenn die Welt aus den Fugen gerät.“
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CW: Mobbing, queerfeindliche und ableistische (bzgl. psychischer Erkrankungen) Sprache
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Als das Publikum zur Premiere am 8. März das Studio des ETA Hoffmann Theaters betritt, stehen zwei der Schauspielenden schon auf der Bühne. Eine Bahnhofsszene. Wiebke Jakubicka-Yervis kämpft erfolglos mit einem Essensautomaten, lässt sich von Eric Wehlan einen Kaffee einschenken und stellt sich schließlich ans Gleis. Lautsprecherdurchsagen. Man wartet. Dann betritt Antonia Bockelmann die Bühne, in einer Latzhose, Rucksack auf dem Rücken und Smoothie in der Hand. Sie setzt sich Kopfhörer auf, Musik ertönt, das Licht dimmt ab. Und das Stück Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte, unter der Regie von Marlon Otte nach Dita Zipfels gleichnamigem Jugendroman inszeniert, beginnt – und zwar am Ende.
Am Bahnsteig: Lucie Schmurrer (Antonia Bockelmann), auf dem Weg nach Berlin. Sie will zu Bernie, der Ex-Freundin ihrer Mutter (Wiebke Jakubicka-Yervis), mit der sie sich immer gut verstanden hat. Ganz anders als mit Michi (Eric Wehlan), mit dem die Mutter inzwischen zusammen ist. Der nervt gewaltig und jetzt soll er auch noch bei ihnen einziehen. Also nichts wie weg. Um die Reise nach Berlin zu finanzieren, erzählt sie, brauchte sie einen Job, und das ist der eigentliche Anfang der Geschichte.
Einem Aushang folgend trifft Lucie auf den exzentrischen Herrn Klinge (Eric Wehlan), dem sie dabei helfen soll, ein Kochbuch zu schreiben. Aber in den Rezepten, die er ihr diktiert, stecken seltsame Zutaten – Drachenherzen zum Beispiel, und Ghulaugen. Oder sind es doch nur Tomaten und Erbsen? Magische Fähigkeiten schreibt Klinge seinen Rezepten auch zu und scheint tatsächlich daran zu glauben. Ob sie das ebenfalls glauben soll, weiß Lucie nicht so genau, aber eine Flasche „Heartchup“ kocht sie sich trotzdem zu Hause nach. Denn alle in ihrer Klasse scheinen auf Marvin (Eric Wehlan) zu stehen und wer weiß – vielleicht funktioniert der Liebestrank ja wirklich und Lucie, die in der Schule nicht so recht Anschluss findet, bekommt seine Aufmerksamkeit. Bloß: Will sie das überhaupt?
„…dass auch Kinder normale Menschen sind, die Entscheidungen treffen können, mit denen die Welt dann umzugehen hat.“
Antonia Bockelmann spielt mit viel Feingefühl die junge Protagonistin Lucie, „ein fast 13-jähriges Mädchen, kurz vor erwachsen“, mal schlagfertig, mal unbeholfen, mal taff, mal verletzlich und immer entschlossen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Eric Wehlan und Wiebke Jakubicka-Yervis wechseln reibungslos zwischen mehreren Rollen, ohne dass je Verwirrung entsteht, wen sie gerade verkörpern. Außerdem legen sie immer wieder ihre Rollen als Figuren aus der Welt des Stückes ab und werden zu Lucies Vertrauten, mit denen sie das Erlebte durchdenken kann; sie stellen Fragen, äußern Einwände oder sprechen Lucies eigene Gedanken aus. So wird die Ich-Erzählung der Romanvorlage auf die Bühne gebracht, ohne dass die Hauptfigur einen ständigen Monolog an das Publikum richtet. Das Aushandeln der Erzählung im Gespräch dreier Personen stellt Lucies Innenleben auf dynamische Art dar und vermittelt geschickt Zerrissenheit und Verwirrungen, aber auch Momente, in denen Klarheit entsteht und Lucie zu einem Entschluss oder einer Erkenntnis gelangt.
Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte ist mal humorvoll, mal berührend und keine Minute zu lang. Im Austausch zwischen Lucie und Klinge geht es Schlag auf Schlag. Er, der sprunghaft von einem Gedanken zum nächsten wechselt; sie, die sich behaupten und nicht klein beigeben will, entschlossen, seinen Ausführungen zu folgen oder es sich zumindest nicht anmerken zu lassen, wenn sie mal nicht hinterherkommt. Diese Wortgefechte entlockten dem Publikum ebenso ein Lachen wie Michis beharrliche und doch nie so recht authentisch wirkende gute Laune, die Lucie gar nicht gebrauchen kann, oder das Eintauchen in die allzu bekannten Gemütszustände der jugendlichen Figuren. Die Interaktionen auf der Bühne sind durchweg mitreißend: Die unbehagliche Körperhaltung, die Antonia Bockelmann als Lucie in einer Unterhaltung mit ihren wesentlich beliebteren Klassenkamerad*innen Jessie (Wiebke Jakubicka-Yervis) und Jules (Eric Wehlan) einnimmt, dürfte allen, die als Jugendliche öfter mal das Gefühl hatten, in einer Gruppe nicht so ganz dazuzugehören, bestens vertraut sein. Wenn Marvin ungebeten durch Lucies Zuhause stöbert, möchte man ihn am liebsten selbst wieder aus der Wohnung zerren. Und dann ist da noch Lucies Mitschülerin Leo (Wiebke Jakubicka-Yervis), die mit ihrer unaufgeregten und unvoreingenommenen Art zu einer Verbündeten wird. Als sich die beiden besser kennenlernen, fühlt es sich an wie ein langersehntes Durchatmen.
Was ist eigentlich ‚normal‘?
„Wenn man bedenkt, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt“, so heißt es gegen Ende hin einmal. Das mag eine Vereinfachung einer eigentlich wesentlich vielschichtigeren Thematik sein, und doch greift das Stück geschickt komplexe Fragen auf: Wer entscheidet, was ‚normal‘ ist und was nicht? Was bewirkt eine starre, vielleicht zu reduktive Trennung zwischen ‚normal‘ und ‚nicht normal‘? Und wie geht man damit um, wenn man ‚irgendwie anders‘ ist? Endgültig beantworten kann dieses „Stück für Jugendliche und Erwachsene“ derartige Fragen nicht, das wäre wohl auch kaum möglich. Aber sie werden gestellt, auf eine ganz unkomplizierte, leicht zugängliche Weise.
Auch das Bühnenbild verliert sich nicht in Komplexitäten: Es stellt zahlreiche verschiedene Orte dar und kommt dennoch ohne aufwendige Kulissenwechsel aus. Fenster und eine Tür öffnen und schließen sich, ein Tresen und ein paar Barhocker werden vor und zurück geschoben – mehr braucht es gar nicht. Die Hauptrolle beim Szenenwechsel spielt die Beleuchtung, die den Fokus mal auf diese, mal auf jene Elemente des Bühnenbilds lenkt. Das Licht ändert sich – und schon ist man ganz woanders und vergisst fast, dass genau die gleiche Kulisse, die nun ein Freibad ist, gerade eben noch eine Schule war und davor eine Wohnung, ein Supermarkt, ein Bahnhof…
„Ich bin übrigens nicht mehr die, die keine Freund*innen hat.“
Durch das gesamte Stück zieht sich Lucies Suche nach Identität und Zugehörigkeit. Ist etwas dran an Klinges Behauptung, man könnte doch nicht einfach den Namen behalten, den sich irgendjemand anderes für einen ausgedacht hat? Und: Marvin hat sie gefragt, hämisch, mit der klaren Absicht, zu beleidigen, ob sie denn „auch“ lesbisch sei, wo doch ihre Mutter lange mit einer Frau zusammen war. So funktioniert das wohl nicht, das weiß Lucie, und eine Beleidigung ist es für sie eigentlich auch nicht. Trotzdem lässt sie der Gedanke nicht ganz los – umso weniger, je mehr Zeit sie mit Leo verbringt. Wer will sie sein und wer steht ihr zur Seite? „Wenn du in deiner Schulzeit zu den Freaks gehörst, weil du zu viel liest, zu wenig sprichst, die falsche Musik hörst“, sagt Bernie in der Romanvorlage, „wirst du später, im echten Leben, zu den Coolen gehören.“ Ganz besonders allen, die sich darin wiederfinden – oder die daraus etwas Hoffnung schöpfen –, sei das Stück Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte wärmstens ans Herz gelegt.
Weitere Aufführungen finden am 12.03., 13.03., 14.03., 17.03., 27.03., 28.03. sowie am 03.04.2024 statt.
von Johanna Ammon
Bild links: v.li. Eric Wehlan, Antonia Bockelmann; Bild rechts: v.li. Eric Wehlan, Antonia Bockelmann (© Martin Kaufhold)
Bild links: Antonia Bockelmann; Bild rechts: Wiebke Jakubicka-Yervis (© Martin Kaufhold)
v.li. Antonia Bockelmann, Wiebke Jakubicka-Yervis, Eric Wehlan (© Martin Kaufhold)
Antonia Bockelmann (© Martin Kaufhold)
v.li.: Antonia Bockelmann, Eric Wehlan (© Martin Kaufhold)