Wut zur Freiheit
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CW: Blut, Tötung von Tieren
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Eine Mutter beugt sich dem Dilemma der Gesellschaft: eigentlich will sie weiter im Beruf bleiben, sie liebt ihren Job, aber mindestens genauso sehr liebt sie ihren Sohn und kann es nicht mehr übers Herz bringen, ihn in fremde Betreuung zu geben. Ihr Mann hat das höhere Gehalt und so ist sie diejenige, die zurücksteckt und für das Kind zuhause bleibt. Die Frustration darüber wächst und wächst und gipfelt in etwas Unglaublichem: Haarbüschel an ungewohnten Stellen, eine pulsierende Beule an ihrem Steißbein – und seit wann hat sie so einen Hunger auf rohes Fleisch? Rachel Yoders Nightbitch wurde geboren.
„Nichts war in Ordnung“
Die Ausgangslage der Geschichte erschien mir am Anfang noch etwas klischeehaft – Mann ist oft auf Geschäftsreise; Frau hat ihren Job aufgegeben, ist relativ unglücklich Hausfrau und beschwert sich zurecht über ungerechte Geschlechterrollen. Die Kommunikation zwischen den beiden ist ein regelrechtes Trauerspiel, nur der gemeinsame Hass auf die Hauskatze scheint sie zu vereinen. Die Schilderungen der Mutter und die Darstellung ihrer Gefühle nehmen beim Lesen jedoch so ein, dass schnell klar wird, dass es sich hier nicht um eine platte Beschwerde, sondern um treffsichere Kritik am System handelt:
„Für wie viele Frauen war die Zeit abgelaufen, während die Männer nicht wussten, was sie mit ihrer anfangen sollten? Und was für ein perfider Trick, es auch noch heilig oder selbstlos zu nennen. Wie boshaft, die Frauen dafür zu loben, dass sie ihre Träume aufgaben.“
Es dauert nur wenige Seiten, bis die ersten Anzeichen einer Transformation der Mutter auftauchen – und ab da wird der Roman auch direkt zum page-turner. Die ‚Mutter‘ wird immer mehr zu ‚Nightbitch‘ – einem hundeähnliches Wesen, das endlich frei, nackt, blutig, sinnlich und brutal sein kann.
„Hundeartige Unbekümmertheit“
Was mich vor allem an dem Roman begeistert hat, ist, dass er – natürlich alles innerhalb des absurden Szenarios einer Tierwerdung – Mutterschaft und Selbstverwirklichung zusammendenkt. Und zwar weder auf die verklärende Art und Weise, die Frauen erzählen möchte, dass sowieso das größte Glück der Erde ist, Kinder zu kriegen; noch im Sinne neo-liberalistischer Ausbeutungstaktikten, welche die Arbeitskraft der Frau so schnell wie möglich zurückgewinnen wollen und dazu das Bild einer zufriedenen ‚working mom‘ verbreiten, ohne ein verlässliches Netz an Versorgung und Kinderbetreuung anzubieten. Nightbitch macht eben genau klar, was dieser Vereinbarkeit in unserer Gesellschaft noch im Weg steht. Bei Yoder ist es das wilde Tier, was Nightbitch überhaupt erst zur ‚erfüllten‘ Mutter macht. Ihre schönsten Momente hat sie mit ihrem Sohn, wenn sie Hund spielen, wenn sie zusammen bellen oder riesige Portionen Essen verschlingen. Und somit wird das, was die Mutter zunächst als Verlust des Selbst befürchtet, zur Findung des Selbst, und zwar weil Nightbitch die eigene Bestialität zulässt. Sie nimmt nicht mehr einfach so hin, sie fordert, sie teilt Bedürfnisse mit, sie rastet vor ihren Freundinnen aus und sie geht nachts auf Streifzug. Und damit verändert sie nicht nur sich selbst und ihre Sicht auf das Leben, sondern zugleich ihr Umfeld und ihre Beziehungen.
Nightbitch ist nicht nur pointierte feministische Kritik, sondern zudem absurd, scharfsinnig, witzig, ansteckend und fesselnd. Von Kapitel zu Kapitel wird Nightbitch wilder und hemmungsloser und inspiriert so zu mehr Unverblümtheit, Unbeschwertheit und Schonungslosigkeit. Der Roman ist ein wahrer Befreiungsschlag. Ein literarisches Plädoyer dafür, die Haare nicht zu kämmen, Zeit für sich selbst einzufordern, seine Gefühle rauszulassen, statt sie zu unterdrücken – ein gelungener Aufruf zu mehr Wut zur Freiheit.
von Theresa Werheid
Rachel Yoder
Nightbitch
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Klett-Cotta 2023
304 Seiten
24,00 Euro