Wie verdammt nochmal entscheidet man sich für das richtige Leben?
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Diese Frage stellen sich in wir sind pioniere sowohl Bruckner als auch seine Partnerin Vero. Abwechselnd erzählen sie ihr Leben aus der Ich-Perspektive und zeigen so den Lesenden, wie dieses Leben aussieht. Aber wissen sie das selbst überhaupt?
„und zack ist da ein baby heilige scheiße“
Das ist die Ausgangsnachricht. Vero ist schwanger. Bruckner bewirbt als Moderator einen Energy-Drink und tritt nun die Heimreise zu seiner Freundin an. Bis zu diesem Moment führen die beiden eine offene Beziehung, von der Vero, die eine Langzeitaffäre mit Keno führt, definitiv mehr Gebrauch macht. Das Baby sollte der Anlass sein, die Beziehung zu schließen.
„aber eine beziehung ist ja keine tür die man mal eben so zuknallt“
Richtig. So sieht das auch Vero und deshalb besucht sie Keno erst einmal über Nacht in Mannheim. Sie möchte mit ihm einiges klären – und irgendwie auch so gar nichts. Währenddessen trifft Bruckner seine mit ihrem Neugeborenen überforderten Freund:innen in München, bleibt dann im Nirgendwo mit der Bahn stecken und gesteht sich langsam ein, dass er überhaupt nicht zufrieden ist mit seinem aktuellen Leben. Seite um Seite bewegen sich Bruckner und Vero aufeinander zu (– tun sie das wirklich?), bis sie schlussendlich in ihrer Wohnung in Stuttgart aufeinandertreffen.
„nur ein bisschen closure ist das zu viel verlangt“
Diese Frage scheint der Roman immer wieder zu stellen, beantwortet sie letztendlich aber nicht. Es geht für Bruckner und Vero darum, ihrem Leben eine entscheidende Richtung zu geben, sich zueinander und zu ihrer bald entstehenden Familie zu bekennen. Das schaffen sie nur bedingt.
Der Roman erzählt nur wenige Tage, eine enorm kurze Zeitspanne im Leben des Paars – macht aber deutlich, mit welchen Problemen die beiden zu kämpfen haben. In erster Linie ist das wohl, dass sie nicht wissen, was sie eigentlich wollen, sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben.
Man kann die Gedanken der Protagonistin und des Protagonisten an vielen Stellen gut nachvollziehen, erkennt sich im gedanklichen Chaos und der Orientierungslosigkeit in den 20ern und 30ern wieder. An anderen Stellen fragt man sich nur: Wieso sind die beiden eigentlich zusammen? Wollen sie wirklich ein Kind? Tragen sie überhaupt Verantwortungsbewusstsein in sich?
„ein kurzer besuch beim amphetaminhändler ihrer emotional instabilen zweitbeziehung wirkt sich nicht negativ auf die gesundheit ihres ungeborenen kindes aus“
Da ist zum einen Bruckner, der es in seinem Job nicht weit gebracht hat, sich ständig mit Freund*innen vergleicht und es nicht schafft, sich seine Eifersucht gegenüber Keno einzugestehen. Und zum anderen Vero, die äußerst unzufrieden in der Gastro ist, sich offenbar so stark zu ihrer alten Heimat Mannheim und Keno hingezogen fühlt, dass sie ihn im Kampf gegen seine Drogenabhängigkeit unterstützt und trotzdem ganz gerne ein Kind mit Bruckner haben würde. Eigentlich leben Bruckner und Vero aneinander vorbei, zumindest in diesen beiden Tagen.
Kaleb Erdmann verwendet für seinen Roman einen besonderen Stil: es gibt keine Satzzeichen und auch keine Großschreibung. Das führt dazu, dass das Lesetempo enorm gesteigert wird, man liest die Gedanken von Vero und Bruckner wie einen Bewusstseinsstrom. Eine kleine Schwachstelle dabei ist aber, dass Vero und Bruckner mittels dieser außergewöhnlichen Schreibart wirken, als dächten sie auf genau die gleiche Weise. Vielleicht ein Stilmittel, um zu zeigen, wie ähnlich die beiden eigentlich sind?
Ähnlich sind sie sich nämlich in ihrer Art zu denken und zu handeln – nur vielleicht eben doch nicht füreinander gemacht. Der Roman lässt die Frage, wie es mit den beiden weitergeht, am Ende ganz bewusst im Raum stehen. Vielleicht eine Einladung zu überdenken, wie zufrieden wir eigentlich selbst mit unserem Leben sind, das wir als ganz in Ordnung empfinden.
„was mach ich hier eigentlich“
Im einen oder anderen Moment nerven die beiden Hauptcharaktere jedoch auch. In Teilen auch ihre Ausdrucksweise, die in Kombination mit den fehlenden Satzzeichen oft den Eindruck macht, als wäre den beiden sowieso alles egal. Und wie verstehen sie eigentlich Moral? Ist es ganz normal, dass man den Partner in einer offenen Beziehung mitunter anlügt? Da sie sich letzten Endes jedoch selbst am meisten belügen, ist der Kritikpunkt wohl hinfällig.
Alles in allem ist Kaleb Erdmanns Roman eine schnelle Lektüre, die einen kurzzeitig mitreißt und die Lesenden durch die witzigen, flotten Formulierungen ganz nah an Bruckner, Vero und ihrem chaotischen Lebensentwurf dran sein lässt. Danach bleiben aber einige Fragezeichen – was genau hat sich in der Geschichte jetzt eigentlich entwickelt? Und auch wenn es das nicht immer muss, hat die Geschichte nicht genug Tiefgang, um sich länger mit ihr zu befassen. Dennoch transportiert sie das Lebensgefühl einer Generation, die zwischen Jugend und Träumen, Erwachsensein und Realität steht, sehr präzise und ist deshalb für alle, die keine Lösungen suchen, sondern sich vielleicht einfach nicht allein fühlen wollen, eine Empfehlung.
von Theresia Seisenberger
Kaleb Erdmann
wir sind pioniere
Park x Ullstein 2024
176 Seiten
20,00 Euro