Pirkko Saisio – Das rote Buch der Abschiede
Pirkko Saisio – Das rote Buch der Abschiede

Pirkko Saisio – Das rote Buch der Abschiede

Die Haute-Couture, wenn es darum geht, politisch-poetische Sprache zum Blühen zu bringen

Eine Reise des Abschiednehmens stellt Pirkko Saisio in ihrem preisgekrönten Roman Das rote Buch der Abschiede vor, den die Autorin bereits vor 20 Jahren geschrieben hat. Es geht dabei wenig um ein Abschiednehmen im klassischen Sinne, sondern vielmehr um die sexuelle und künstlerische Befreiung einer Frau, wofür sie mit hohem Preis bezahlt – getränkt in die politische Spannung zwischen Russland und Finnland. Für diese gelungene Essenz brauchte es eine feine Nase seitens der Autorin, um diesen Stoff mit raffinierter Stilistik und präzisen, poetischen Nuancen zu verfassen. Sie untermalt mit ihrem Text gewiss in der Farbe Rot eindeutig die These: Liebe ist politisch.

„Warum sollen wir mitbauen an einem Haus, in das wir nur hineinpassen, wenn sie uns einen Kopf kleiner machen?“

Im Vorwort schreibt die Autorin über die Hintergründe der Ich-Erzählerin, ihr Aufwachsen in einem kommunistischen Haushalt in Helsinki, über den Wunsch, ein Junge zu sein, über innere Zerrissenheit – Worte, die sehr an Saisios eigene Kindheit erinnern. 
Die Protagonistin lebt in einem Arbeiter*innenhaushalt, in dem es ausschließlich politische Bücher gibt, in dem für Glaube und queere Liebe kein Platz vorgesehen ist. Angekommen im Studierendenleben Helsinkis führen die Wege zur queeren Liebe, ins Theater, in höhere Instanzen der Uni, zum Muttersein, zurück in die eigene Kindheit.

„Havva ist auserwählt, und sie weiß es.“

Die Ich-Erzählerin ist verliebt in Havva, ihre große Liebe. Havva nimmt sie gefangen in einen gefährlich-paradiesischen Zauber, gleichzeitig ist Havva von einer für sie teils unaushaltbaren Stärke geprägt. Havva ist laut, einvernehmend, anziehend, schön, lockig, Kommunistin. Blüht im Theater auf, vergisst dabei alles um sich herum. Versucht sie in ihre Begeisterung zu involvieren. Sie fühlt sich von Havva vernachlässigt, verfällt ihr. Auf der Bühne mit Havva wird sie mit der Geschichte ihrer eigenen Mutter konfrontiert. Sie gebärt ein Kind, das Sonntagskind. Das Sonntagskind bewundert Havva, wie auch sie es tut. Sie wünscht sich Akzeptanz, Bewunderung, von ihrem Elternhaus, von Havva. Sie ist Tochter, Mutter, Dramaturgie-Studentin, Professorin. Es ist ein kräftezehrender Akt, das Gleichgewicht in einem porösen Gesellschaftskonstrukt zu halten. 

„Der Wind zerrt an den roten, porös gewordenen Blättern.“ –  Pirkko Saisio zerrt am roten, porös gewordenen Konstrukt der romantischen Liebe

Das rote Buch der Abschiede lässt einem die Wahl: Entweder werden sämtliche Orte wie die Brücke Pitkäsilta recherchiert oder man kreiert sich seine eigene Welt aus dem finnischen Repertoire. Pirkko Saisio changiert zwischen erster und dritter Person in der Erzählform und zwischen den Dekaden, einige Details werden dadurch erst zum Ende hin eindeutig. Ein Zurückblättern braucht es, um sich mancher Details noch einmal zu vergewissern, um jegliche Ebenen zu greifen. Saisios Worte bergen unzählige Überraschungen, traurig und rührend zugleich und nicht von Wut befreit.

Die Autorin zählt zu den bekanntesten Personen der Kulturszene Finnlands. Als Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin beherrscht sie das Handwerk, Sprache physisch greifbar werden zu lassen, einen die Gefühle der Protagonistin spüren zu lassen. Der mit Lyrik gespickte Roman und die dezidierte Anordnung ihrer Worte schaffen es, den Inhalt auf eine szenische Ebene zu heben, um ein Mitfühlen für ein brisantes Thema zu kreieren. Dies ermöglicht sie mittels Anaphern über Seiten hinweg, Farb- und Natursymbolik, Analepsen, Prolepsen, großem Abstand zwischen Textpassagen, verbunden durch Konjunktionen, was einem den Atem kurz raubt: 

„Ich verspreche zu kommen, natürlich, ich habe meine Mutter schließlich seit sieben Wochen nicht gesehen.

Aber:

‚Tante Ulla kommt auch, also bitte keinen Mucks von deinem Firlefanz, hörst du? Zu niemandem, weder zu Verwandten noch zu Freunden. Zu keinem, den Vater und ich kennen. Vergiss das bitte nie.‘

Ich vergesse es nie, bis zu Mutters Tod und sogar noch darüber hinaus. 

Und so trennt Mutter mich mit einem Seziermesser von meinem Hintergrund.“

Pirkko Saisio hat den Roman bereits 2003 auf Finnisch veröffentlicht, wofür sie den Finlandia-Preis gewann. Das rote Buch der Abschiede stellt den Abschluss ihrer autofiktionalen Trilogie dar, wovon der zweite Teil Gegenlicht kürzlich auf deutsch publiziert wurde, Das kleinste gemeinsame Vielfache wird folgen. Davor publizierte die 1949-geborenen Autorin längere Zeit unter den Pseudonymen Eva Wein und Jukka Larsson, um sich als queere Autorin Gehör zu verschaffen. 

von Miriam Mösl

Pirkko Saisio
Das rote Buch der Abschiede
Klett-Cotta, 2023
310 Seiten
25,00€
ISBN: 9783608987256 

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