Der „Psalm der Pornobraut“
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CW: sexuelle Übergriffe
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Raizls Erwachsenleben geht gerade erst so richtig los. Sie lebt in Brooklyn, geht aufs College, wohnt mit ihrer Familie zusammen, hat einen Laptop. So weit, so unspektakulär, denkt sich unsereins. Aber Raizl spricht auch vor jeder Mahlzeit einen Segen aus, trägt lange Kleidung, die ihren Körper bedeckt, und soll mithilfe einer Heiratsvermittlerin bald einen Bräutigam, einen choßn, finden. Die Protagonistin von Felicia Berlinerwandelt zwischen den Welten, zwischen Glauben und Moderne, zwischen Reinheit und Shmutz.
Berliners Debüt beginnt äußerst amüsant und rückt das Leben einer jungen vielschichtigen Frau in den Mittelpunkt. Die chassidische Jüdin Raizl sitzt bei einer Therapeutin, weil sie Pornos schaut. Ein absoluter Regelverstoß in der streng gläubigen Gemeinschaft, in der sie groß geworden ist – eine Sünde. Allein, dass sie einen Laptop besitzt und damit Zugang zum Internet hat, ist etwas sehr Ungewöhnliches. Sie darf ihn nur haben, damit sie Buchhaltung studieren kann – auch das ist immer noch ungewöhnlich für eine Frau in ihrer Gemeinschaft. Da die Verlobung ihres älteren Bruders geplatzt ist, soll Raizl nun möglichst schnell einen Ehemann finden.
Alles beginnt ganz harmlos, sie googelte erst Bilder von Menschen, die sich küssen, später von Sex und dann kommen irgendwann die Videos. Doch was als emanzipatorischer Akt beginnt, wird bald genauso erdrückend wie die Erwartungen des Elternhauses.
„Raizl, Tocher Israels, pornosüchtig“
Shmutz ist die Coming-of-Age-Geschichte einer Abwärtsspirale. Am Anfang fiebern wir noch mit, mit Raizl – freuen uns geradezu, dass die Protagonistin Schritte in Richtung sexuelle Befreiung unternimmt, dass sie ihren eigenen Körper und ihre eigenen Bedürfnisse erforscht. Doch die Begeisterung kippt, als Raizl nächtelang wach bleibt, immer weiter abstumpft und ihre Noten am College darunter leiden.
„Sie schaut mehr, hat aber das Gefühl, es gäbe nichts zu sehen. Die Männer machen das Übliche mit den Frauen, und die Frauen haben die üblichen Reaktionen. Die immergleichen Bewegungen, Laute, Gesichtsausdrücke, die mit jeder Wiederholung künstlicher werden.“
Die Autorin schafft ein authentisches Bild einer Sucht, einer toxischen Abhängigkeit, in der Raizl vergeblich den nächsten „Kick“ sucht. Sie wird konfrontiert mit den absurden Vorstellungen von Liebe und Sexualität, die ihre Familie und ihr Glaube ihr vorgeben, aber genauso mit den artifiziellen und oft herabwürdigenden Inhalten der Pornos. Berliner bringt es scharfsinnig auf den Punkt: Egal ob strenge Glaubensgemeinschaft oder Hardcore-Porno, überall scheinen Frauen, das zu machen, was dem Mann gefällt. Putzen, Kochen, Deepthroat, Bondage – wo liegt da schon der Unterschied?
Gelungene Grenzüberschreitung
Berliner beweist Humor, Scharfsinnigkeit, Empathie und die Fähigkeit zur Nuanciertheit. Ihre Ausführungen über die jüdische Lebensweise von Raizls Familie sind natürlich subjektiv eingefärbt durch die Wahrnehmung der Protagonistin, sind dabei aber weder verurteilend noch romantisierend. Ebenso wenig erscheint das Hauptthema des Romans, nämlich die Sucht nach Pornos, und die daraus resultierende Explizitheit des Buchs als plumpe Effekthascherei oder flache Provokation, nein, sie geht tiefer und behandelt wichtige Fragen rund um Rollenbilder, Sexualität und Körperideale. Obwohl Raizls Welt in Brooklyn so weit weg scheint, schafft Shmutz es, ihre Konflikte und Herausforderungen universal gültig zu machen, und das meiner Meinung nach nicht nur für Frauen. Es geht schließlich um das Manövrieren zwischen Erwartungen der Eltern und Familie, Vorgaben der Gesellschaft und den eigenen Wünschen. Ein Drahtseilakt, der in Shmutz zwischenzeitlich fast schon als unmöglich erscheint. Aber – so viel darf verraten werden – zwischen all diesen Ziehkräften wird Raizl ihren Weg finden.
von Theresa Werheid
Felicia Berliner
Shmutz
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse
Atlantik 2023
368 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-1-982177-62-1