„Was uns alle eint, ist das abwägende Verhältnis, die komplizierten Gefühle, die wir zu Brüsten haben. Zu unseren und den anderen. Zu denen, die wir mal hatten, oder die wir gern hätten. Zu denen, die wir uns zugelegt haben oder losgeworden sind, die wir verloren oder gewonnen, die wir verändert und deren Veränderung auch uns verändert hat […]“
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Linus Giese und Miku Sophie Kühmel haben zusammen die Anthologie Brüste herausgegeben, in der sie gemeinsam mit zehn weiteren Autor*innen über die Diversität dieses Körperteils reflektieren. Geschlechterrollen, Schönheitsideale, Mutterschaft, Körperlichkeit, Konsens und Machtverhältnisse werden anhand von essayistischen oder literarischen Beiträgen verhandelt.
Daniela Dröscher zeigt in einzelnen Fragmenten zu beispielsweise Kate Moss, Whiteness oder Mater Dolorosa die Bandbreite persönlicher Bezüge zur Brust auf. Bettina Wilpert zeichnet durch kunstgeschichtliche Referenzen den Druck auf Mütter ihr Kind zu stillen nach. Herausgeber Linus Giese erzählt von seiner Erfahrung als trans Mann und der Geschlechtseuphorie endlich eine flache Brust zu haben. Angela Lehner bietet eine andere Perspektive der operativen Eingriffe und lässt die Leser*innen an den Erlebnissen im Rahmen ihrer Brustreduktion Teil haben. Miku Sophie Kühmel legt offen, inwiefern die Bewertung von außen, das exogene Objektifizieren des eigenen Körpers, die Selbstwahrnehmung und -haltung nachhaltig beeinflussen kann: „Seine Aufmerksamkeit, die mich abtastete. Von Kopf bis Fuß und besonders lange meine bis dato stolzgeschwellte, flache Brust. In diesem Moment fielen meine Schultern nach vorn […].“ Biba Oskar Nass liefert wieder eine Auseinandersetzung mit Gerd Katter, der während der Weimarer Republik transitionierte und „[…] ein Messer angesetzt haben soll, um aufzuhören, wo er aufhört. Der hinterlassen hat, was du brauchtest, und dir immer wieder zeigt, wie du weitermachen kannst“. Nils Pickert spricht von der Konsequenz der Überhöhung und Symbolträchtigkeit der weiblichen Brust – der „Tittenschuld“. Für heterosexuelle cis Männer stellen Brüste Möglichkeiten und Ansprüche dar. Somit verschiebt sich der Fokus darauf, was sie für diese Männer zu bedeuten haben anstatt was sie für Träger*innen bedeuten können. Sarah Berger rechnet ebenfalls mit der Objektifizierung und den Zuschreibungen an den eigenen Körper von außen ab; klärt perfekt auf, warum körperbezogene Kommentierungen, auch wenn sie als vermeintliche Komplimente getarnt sind, unerwünscht sind und wieso die angebliche gute Absicht daran auch nichts ändert. Audrey Naline steuert die Sicht einer Drag Queen und ihre Beziehung zur silicone breast plate bei. Kirsten Achtelik bringt das Spannungsverhältnis zwischen Brustkrebs, weiblichem Körperideal und queerer Körperrealität näher. Michaela Dudley zieht als trans* Frau die Parallele zu den vorangegangenen transmaskulinen Beiträgen. Letztlich beschreibt Antje Rávik Strubel das Ausgeliefertsein in einer Welt, in der Brüste ein Statement sind, auch an Tagen, an denen man keines machen möchte und welche Momente der Geschlechtseuphorie, in denen man „im eigenen Körper Platz für sich selbst hat“, als Lichtblicke die restlichen Momente durchstehen lassen.
„Das Vorhandensein meiner Brüste spielt für mich nur dann eine Rolle, wenn ich daran von außen erinnert werde, wenn sie mit falschen Bedeutungen aufgeladen werden, wenn ich sie verstecken oder verstümmeln muss, weil sie geschlechtlich und sexualisiert kodiert oder beschämt werden.“
Die einzelnen Beiträge bestechen durch ihre Ehrlichkeit, offenbarende Intimität und ihre Stärke – darin die Erfahrungen und Gefühle zu benennen, aber auch zu teilen und dadurch Möglichkeiten für die Lesenden zu schaffen, sich im Text wiederzufinden. Dem Anspruch einer Anthologie wurden die Herausgebenden gerecht, da die Perspektiven so unterschiedlich sind, aber stets dadurch geeint, dass sie trotz der negativen Erfahrungen in den Erzählungen ein Gefühl der Wärme und des Empowerments transportieren. Die Motivation der Herausgebenden für den Band wurde umgesetzt: etwas zu erarbeiten, „was uns fehlt. Was wir uns herbeiwünschen“. Dank Brüste gibt es nun ein Buch, in dessen Vielschichtigkeit der Zugänge jede*r Verknüpfungsstellen für die eigene Erfahrung und Beziehung zum Körperteil finden kann. Deshalb bleibt an dieser Stelle nur noch ein Danke und eine nachdrückliche Empfehlung auszusprechen!
von Michaela Minder
Linus Giese / Miku Sophie Kühmel (Hg.)
Brüste. Eine Anthologie
Tropen 2024
176 Seiten
20,00 Euro
ISBN: 978-3-608-50249-7