„Die Macht des Verbotenen ließ mich erstrahlen. Einen Augenblick lang hatte ich die Schönheit dessen verspürt, was alle für falsch hielten, hatte begriffen, dass ich jede Zurückhaltung in den Wind schießen musste.“
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Davide Coppo erzählt in Der Morgen gehört uns wie sich ein einsamer junger Mensch nach Rückhalt und Orientierung sehnt und glaubt, genau das im Faschismus zu finden.
Ettore, ein Junge in seinen Teenager-Jahren im Mailänder Umland der 2000er Jahre, wird von Unsicherheit und Einsamkeit geplagt. Ein Elternhaus, in dem es kein echtes Miteinander gibt, nie über Politik gesprochen wird und das kein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt. Letzteres sucht der zu Beginn des Romans 14-jährige Protagonist verzweifelt und scheint es zu finden, als er nach einem Schulwechsel die gegenseitige Aufmerksamkeit eines Jungen auf sich zieht, der ihm die Federazione, eine faschistische Jugendorganisation, vorstellt. In diesem Kreis macht er seine ersten Begegnungen mit rechter Politik, Ideologie und Gemeinschaft. Die Faszination, die davon ausgeht, wird für ihn bald zum Lebensmittelpunkt. Endlich überwundene Scham und ein Selbstbild der Unzulänglichkeit wird durch neue Gefühle von Macht und Überlegenheit aufgepeitscht und ermöglicht eine Elektrisierung durch Gewalt. Die Radikalisierung zieht immer engere Kreise und kulminiert: „Ich naschte den Hass, ohne zu ahnen, wie er mir bekommen, welche Kräfte er mir verleihen würde.“
„Je weiter ich mich auf die falsche Seite vorwagte, desto sicherer fühlte ich mich, desto klarer im Recht. Der Hass der anderen kann ein bequemes Bett sein, man muss nur rausfinden, wie man am besten darin liegt.“
Der Morgen gehört uns zeichnet sich vor allem durch Darstellung der Vielschichtigkeit und ineinandergreifenden Faktoren aus, die Ettores Weg bestimmen. Coppo zeigt, dass es sich nicht um das oft gehandelte Bild von einem Abrutschen in die rechte Szene allein dadurch, dass man an „falsche Freunde“ gerät, handelt. Vielmehr versteht es der Autor zu transportieren, welche Faszination der Faschismus auslösen kann mit den Illusionen, die er verspricht, und wie der Protagonist sich dem deshalb aktiv annähert: „[…] ein Gefühl der Ordnung, des Glücks, der Perfektion. Alles schien zu laufen wie geschmiert, alles bewegt sich in dieselbe Richtung. Eine Welt der Klarheit, ganz ohne Zweifel und Ängste.“ Auch das Hin- und Hergerissen-Sein im Laufe der Radikalisierung wird thematisiert: „Einerseits war da mein Schuldgefühl, andererseits dieser Impuls, diese Versuchung mich noch stärker zu besudeln.“
„Es waren einfach zu viele Abzweigungen gewesen, und alle zu unauffällig, unübersichtlich oder äußerlich unschuldig.“
Davide Coppo gibt an, in seiner Jugendzeit eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben. Das Erstarken des Neofaschismus in Europa in den Jahren 2021 und 2022 gab dem Autor das Bedürfnis diese Erinnerung im Rahmen eines fiktionalen Romans zu erzählen. Der Morgen gehört uns gewährt Einblicke in die Motivation eines Jugendlichen sich dem Neofaschismus zu verschreiben – eine Erzählung von vielen, aber eine Erzählung wie sie viele andere auch haben (können). Die Parallele zwischen Italien und Deutschland als europäische Länder, in denen das Wiedererstarken des Faschismus, vor allem durch junge Leute getragen wird, zeigt wie passend das Erscheinen der deutschen Übersetzung im Kjona Verlag ist.
von Michaela Minder
Davide Coppo
Der Morgen gehört uns
Aus dem Italienischen von Jan Schönherr
Kjona 2024
240 Seiten
24,99 Euro
ISNB: 9783910372290