„Als ich aufwachte, hörte ich auf, eine Frau zu sein“
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CW: Suizidgedanken, Medikamentenmissbrauch, Tod, Trauer, Trauma
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Wie zieht sich der Verlust des eigenen Kindes durch das Leben eines Menschen? Wo schöpft es sich Kraft, Mut, Hoffnung?
Daniela Krien steht mit Mein drittes Leben auf der Longlist des deutschen Buchpreises 2024. Man möge beim Anblick des Covers einen Sprung in die nasse Freiheit vermuten – vielmehr schreibt Krien in ihrem Roman über Schmerz und dessen Überwindbarkeit. Der Erzählstoff ist reich an wichtigen Themen: Mutterschaft, Liebe, langjährige Freundschaft, Menschen mit Behinderung, Trauer, Krankheit, Natur, Klassismus. Zentral dabei ist der tödliche Fahrradunfall Lindas 17-jähriger Tochter, der als Motiv für den Plot fungiert.
„Von einem Menschen wie mir bleibt nichts.“
Neben dem zentralen Schicksalsschlag zerren weitere Tiefpunkte an der Protagonistin, dennoch ist der Roman nicht als eine Tristesse an sich zu verstehen. Linda schafft es, nach jeder sich schließenden Tür eine neue zu öffnen – lediglich bei der Tochter bedarf dies einiger Zeit.
Krien wählt berührende, warme Worte, öffnet das Ventil des Trauerns und weiß einen stetig hervorquillenden Schmerz zu formulieren. Es tummeln sich Sätze in der Prosa, die den Plot sprachlich raffiniert darstellen. Daneben wirkt ihr bedachtes, oftmals in Natursymbolik getauchtes Wording aber auch durchgängig sinnhaft, selbst wenn die Sätze völlig aus dem Kontext gerissen werden:
„Die Welt ist ein Chaos, doch nichts davon berührt mich […]. Zwischen mir und der Welt ist der Abstand zu groß; ich höre und lese von den Geschehnissen, aber ich empfinde sie nicht.“
Die Ich-Erzählerin changiert zeitlich zwischen dem Tod der 17-jährigen Sonja, ihrer Krebserkrankung, einem Ehebruch und dem Finden des eigenen Ichs. Die feministische Perspektive wird insoweit nicht außen vor gelassen, als dass physische weibliche Gewalt, Mutterschaft (nicht leiblicher Kinder) und Liebe in den Plot verwebt werden.
Die Autorin verfasst eine Lektüre, die der Magie des Lebens im Gewand der Prosa neuen Glanz verleiht, mit all seinen Flecken. Darunter zu verstehen sei die Trauer, die unangemeldet den Tag durchzecht, und Medikamente, die schonungslos konsumiert werden, um ihr Herr zu werden.
„Ich wünschte, etwas würde mich erlösen. Etwas vernichtend Schönes, eine Naturgewalt – eine Feuersbrunst, eine Sturmflut, ein Wasserstrudel.“
Die SZ nennt Kriens Werk „Überlebensroman“. Der vorliegende Erzählduktus erfüllt diese Bezeichnung allemal – nicht ausschließlich auf den Verlust des eigenen Kindes bezogen. Warum Lindas Mann Richard Rammstein während der Malerei hört und dies wiederholt im Roman trotz der Missbrauchsvorfälle gegenüber Till Lindemann erwähnt wird, sei dahingestellt. Man könne gar die Vermutung anstellen, nicht ausschließlich Sympathien für ihn als Figur zu empfinden?
„Sätze wie Köder, doch ich beiße nicht an“. Wohl! Daniela Kriens neuer Roman birgt gleich zu Beginn verlockendes Anbeißpotenzial.
von Miriam Mösl
Daniela Krien
Mein drittes Leben
Diogenes 2024
304 Seiten
26,00 Euro
ISBN 978-3-257-07305-8