„Chronische Erkrankungen haben im Gegensatz zu Unfällen meiner Meinung nach vor allem ein dramaturgisches Problem: Care und Empathie halten maximal so lange wie ein Gips.“
Selma Kay Matters Debütroman Muskeln aus Plastik tariert Schmerz, Behinderung, Care und schwule trans* Männlichkeit aus.
Der autofiktionale Text erzählt von Kay. Kay ist in Aron verknallt und an Long Covid erkrankt. Frisches Verliebtsein und chronische Erkrankung treffen aufeinander und legen die Diskrepanzen offen, die eine chronische Erkrankung bedeuten kann. Welchen Stellenwert und welche Spielräume bekommt Begehren, wenn es Knutschen nur zum Preis von Gliederschmerzen gibt? Wenn die Erschöpfung der körperlichen Nähe und Spontanität im Weg steht?
„Der akute Schmerz im Moment der Enttäuschung kommt einem manchmal größer vor als der konstante, gewohnte Schmerz über die Einsamkeit, die dadurch entsteht, dass man niemals irgendjemandem vertraut hat mit den eigenen Zugangs- und Care-Bedürfnissen.“
Matter beschreibt auf eindrücklichste Art, mit welcher doppelten Belastung Menschen mit chronischer Erkrankung oder Behinderung konfrontiert werden. Anhand Kays Erkrankung wird illustriert, welchen Einfluss Desirability auch auf Fürsorge hat und wie Gender sich auf die Konnotation von Bedürfnissen, Grenzen sowie Hierarchien der Care auswirkt. Matter erklärt die multiplen Dimensionen von Schmerz und kehrt immer wieder zurück zur Anklage der aktuellen Missstände im Diskurs zu gesund und Care. Muskeln aus Plastik liefert ein neues Verständnis von Heilung – nicht nach klinischen Kriterien im medizinischen Sinne ausgerichtet – und fordert: Care-Arbeit als Pflege und Fürsorge muss nicht immer gerne, sondern sie muss gewaltfrei gemacht werden.
„Nach meinem multiplen Heartbreak durch eine Reihe von Freundschafts-Breakups, die allesamt mit meiner Erkrankung und den damit verbundenen Care und Access-Bedürfnissen zu tun hatten […].
Die essayartige Form erlaubt es, diverse Textformen miteinander zu vereinen. Die verschiedenen Teile weisen jeweils einen eigenen Fokus auf und fügen sich dennoch zu einem stimmigen Bild. Der Stil spiegelt diese Diversität wider, da sowohl lyrische Elemente als auch sachbuchartige Einschübe im Einklang verbunden werden. Eine Sequenz, die sich besonders mit Begehren im schwulen trans*männlichen Kontext auseinandersetzt, sticht durch die konstante Verwendung der zweiten Person Singular heraus und kreiert so Eindringlichkeit und Nähe zwischen Erzähler*in und Leser*in. Das Aufbrechen einer klassischen Erzählweise, das Changieren zwischen Aufklärungsarbeit und poesiehafter Prosa sowie die Nahbarkeit der Figur Kay zeichnen Muskeln aus Plastik sprachlich aus.
von Michaela Minder
Selma Kay Matter
Muskeln aus Plastik
Hanser Berlin 2024
240 Seiten
23 Euro
ISBN 9783446280038