Lisa Unger – Der heimliche Beobachter
Lisa Unger – Der heimliche Beobachter

Lisa Unger – Der heimliche Beobachter

Ein Ferienhaus wird zum Horrorhaus

CW: Angststörung, Alkoholismus, Autounfall, Blut, Essstörung, Erpressung, Fehlgeburt, Femizid, häusliche Gewalt, Mord, physische und psychische Gewalt, plötzlicher Kindstod, Rassismus, sexuelle Belästigung, Stalking, Suizid, Suizidgedanken, Tod, Vergewaltigung

Hannah und Bruce sind ein ganz gewöhnliches Paar. Sie sind Eltern einer kleinen Tochter, berufstätig und haben schon länger keine Zweisamkeit mehr genossen. Da kommt die Einladung von Hannahs Bruder Mako, ein langes Wochenende in einem idyllisch gelegenen Cottage mit Whirlpool, Privatkoch und Freunden zu verbringen, gerade recht. Als die Freunde sich in das Ferienhaus begeben, scheint eigentlich alles perfekt… eigentlich. Bis ein gefährlicher Sturm aufzieht und kurz danach Makos Ehefrau Lisa spurlos verschwindet. Verzweifelt begeben sich die Freunde auf eine lebensgefährliche Suche nach ihrer Freundin, wobei die größte Gefahr im Wald weniger die Auswirkungen des Sturms sind, sondern jemand, der sie schon seit geraumer Zeit beobachtet…

Starker Auftakt, fragwürdiges Ende

Lisa Ungers Der heimliche Beobachter ist ein Thriller, der in großen Teilen überzeugt und nur an wenigen Stellen an Spannung verliert. Im Zentrum des Romans stehen die tiefsten menschlichen Abgründe, genauso wie die kleinsten Sünden, die jede*r aus dem eigenen Alltag kennt – nur bleibt bei Unger kein Fehler unbeobachtet. Hier werden Fehler observiert, dokumentiert und schlussendlich scharf bestraft. Keiner der Charaktere ist sicher vor den Augen des heimlichen Beobachters… oder Beobachterin? Dank Ungers Erzählstil wird ebenfalls die Leserschaft selbst zu Beobachter*innen, die sowohl den Protagonist*innen als auch dem heimlichen Beobachter über die Schulter schaut, wobei die Identität des wahren Beobachters bis kurz vor Ende unbenannt bleibt.

Der Roman ist in drei Akte untergliedert und folgt mehreren großen Handlungssträngen, die zu Anfang vollkommen zusammenhangslos erscheinen. Durch die Fülle an Charakteren bleiben die Spurensuche und die Verbrecherjagd durchweg dynamisch. Jedes Kapitel erzählt aus der Sicht eines anderen Charakters und spielt zudem während unterschiedlicher Zeitpunkte – von 1997, 2001, 2006 bis 2017/8. Was möglicherweise zu Verwirrung führen kann und Leser*innen manchmal zur Weißglut treiben mag, ist für mich ein weiterer Pluspunkt, der den Spannungsbogen an manchen Stellen zwar unterbricht, ihn aber dann immer wieder aufs Neue kreiert. Unger legt bewusst Spuren, die Leser*innen leicht auf die falsche Fährte locken können – das beste Beispiel hierzu ist allein der Titel des Romans. An manchen Stellen habe ich jedoch eher vergeblich auf den großen Paukenschlag gewartet und fand die Handlung in manchen Teilen etwas zu konstruiert, in anderen Teilen zu fantastisch, vor allem am Ende des Buches.

Nichtsdestoweniger ist Ungers Erzählstil durchweg fesselnd, nicht aufdringlich, aber dennoch mysteriös und abwechslungsreich. Die Autorin konstruiert wie immer ein Feuerwerk an Verworrenheiten, inneren Konflikten und tiefgründigen Charakterporträts. Dennoch war mir das Eintreten des zentralen Konflikts zu früh; gleich nach Ankunft im Ferienhaus werden Gruselgeschichten über das Setting gestreut, die Angestellten verhalten sich stereotypisch sonderbar und eine der weiblichen Figuren wird (klischeehafterweise) alleingelassen. An dieser Stelle beginnt mir das Dramatische in der Geschichte zu schnell, was jedoch durch die implementierten Rückblicke und detaillierten Impressionen ins Leben der handelnden Figuren wieder aufgefangen wird. Wäre dies nicht der Fall, wäre das Buch vermutlich kaum dicker als ein Reclam-Heft. Dennoch schafft es Unger mehrfach Gefühle der Beklemmung und Hektik authentisch zu vermitteln. Insgesamt ein Thriller mit einem sehr spannenden Auftakt und einer interessanten Handlung, aber einer eher unrealistischen Conclusio am Ende, die den Roman leicht ins Fantastische abdriften lässt.

von Kristina Steiner

Lisa Unger
Der heimliche Beobachter
Aus dem Amerikanischen von Anke Angela Gruber
Lübbe 2024
448 Seiten
12,00 Euro
ISBN: 978-3-404-19248-9

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