Der Papa wird’s schon richten – oder nicht
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Frauen im Schlager-Business? Schwierig. Zumindest, wenn sie was zu sagen haben wollen. Doch nicht nur in dieser, im Vordergrund schillernden und lauten Welt passieren unsagbare Dinge, sondern auch im stillen Kämmerchen, im eigenen Zuhause. Das muss Jennifer Boyard in Caroline Rosales‘ Roman auf die harte Tour erfahren.
Jennifer ist dreifache Mutter, Ehefrau, Arbeitstier und Tochter des großen Schlager-Produzenten Bernd Boyard. In ihrem Leben gibt es nichts anderes als da und verfügbar zu sein. Körperlich und emotional. So hat sie es gelernt und tut alles dafür, dass weder ihr Mann Max noch ihr Vater, den sie so sehr liebt, enttäuscht von ihr sind. Ein Vergewaltigungsvorwurf gegen Bernd scheint im ersten Moment nichts an ihrem hart umkämpften Alltag zu ändern, jedoch beginnt sie das Verhalten ihres Vaters und ihre Beziehung zu ihm zu hinterfragen. Alte Traumata kommen zum Vorschein und patriarchalischer Machtmissbrauch sowohl innerhalb der Schlagerbrange als auch in Jennifers Familie rücken zum Leidwesen aller ans Licht.
„Papi hatte sein Leben gegeben, damit Jennifer ein gutes Auskommen hatte. Papi hatte auf viel verzichtet. Das würde sie ihm nicht vergessen. Und dafür war sie immer die Frau in seinem Leben gewesen.“
Gnadenlos und ungeschönt beschreibt Rosales, wie sich Familienbeziehungen plötzlich zuspitzen, und zeichnet den Erkenntnisweg einer Frau, die erfahren muss, dass ihr Vater doch nicht der beste Mensch der Welt ist. Besonders spannend wird die Geschichte durch eine fatale Parallelität von Jennifers zwei Welten: Nicht nur in der Produktionsfirma, die sie mittlerweile eigentlich leitet, sondern auch in ihrer Familie hat Bernd weiterhin die Fäden in der Hand.
Die Aufarbeitung von Lebensrealitäten, in denen Frauen scheinbar machtlos festhängen und die von außen betrachtet so heile wirken, machen durch Rosales packenden Stil beim Lesen zugleich wütend und traurig. Als Leser*in ist einem ein nicht sehr expliziter, jedoch erkennbarer Wissensvorsprung gegönnt und man darf dabei zuschauen, wie die Protagonistin zunehmend mit ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart aufräumt.
„Jennifer glaubte, dass sie sich noch nie so einsam gefühlt hatte. Oder, dass ihr die Einsamkeit der vergangenen Jahre erst nun vollends bewusst wurde.“
Ein spannender Roman mit einer relevanten Thematik, der es auch schafft das Setting der Schlagerwelt aufzufangen. In einzelnen Passagen greift die Autorin Verse aus diversen Schlagersongs auf und fügt sie fast unbemerkt in den Text ein. Der Lesefluss wird dadurch in keiner Weise beeinträchtig, ganz im Gegenteil: Die Authentizität des Erzählten gewinnt dazu.
Trotz der sehr bedrückenden Handlung bringt der Roman eine tolle Leseerfahrung und schmerzhaft ehrliche Erkenntnisse mit sich. Unbedingt lesenswert!
von Jule Dumke

Caroline Rosales
Die Ungelebten
Ullstein 2024
304 Seiten
22,99 Euro
ISBN 978-3-550-20214-8