Darf’s ein bisschen „Gratis-Mentalität“ sein?
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Nora, du Powerfrau! Wie du dich doch entwickelt hast in diesen 146 Jahren! Und das ganz allein, beziehungsweise mit Hilfe der extrem unwichtigen Nebenfiguren, aber egal, ist es nicht am wichtigsten, dass DIE FRAU sich emanzipiert?
Nein, eben nicht. Diesen Punkt macht das Schauspiel-Ensemble aus Erlangen mehr als deutlich an diesem wunderbaren Premieren-Abend des 22. Februar, der die bestehenden Erwartungen übertroffen hat. Was zunächst als kleiner Gag zu Beginn anmutet – die Figuren treten als Comic-Figuren in Ganzkörper-Overalls auf –, ist eigentlich schon der Kern des Stücks. Es geht nämlich um die Nebenhandlung, die Nebencharaktere, alles eben, was außerhalb des Spotlights passiert.
Dementsprechend bekommt man an diesem Abend auch keine Neuschreibung der Geschichte vorgespielt, sondern darf einen hochpolitischen, freien Diskurs über die Entwicklung des Stücks verfolgen, der Theater- und allgemeine Denkmechanismen offenlegt. Dabei wird stets klar, wie fein Sivan Ben Yishai die Handlung komponiert hat und wie wichtig jedes kleinste Detail ist.
Aber worum genau geht es denn eigentlich, wer ist diese Nora? Müsste man die kennen? Die Antwort darauf lautet: Sie ist eine von vielen Frauen, die aus der Feder eines bereits längst verstorbenen Dichters (Gender-Sternchen an dieser Stelle nicht möglich!) stammen und damit eigentlich ein Prototyp. Der Autor des zugrundeliegenden Stücks ist in diesem Fall Henrik Ibsen, der seiner Hauptfigur in Nora oder Ein Puppenheim im Jahr 1879 eine waghalsig-emanzipierte Rolle zudachte, indem sie gegen ihren Mann aufbegehrte. Schade nur, dass das dem Bild von Ehe und Familie widersprach und der Schluss für die damalige Theatergesellschaft abgeändert werden musste – man verlässt doch nicht Haus, Mann und Kinder!
Frau schon. Die Zuschauenden in Erlangen dürfen schmunzeln (obwohl es eigentlich nicht viel zu lachen gibt), wenn Nora sehnlichst auf ihre Background-Story wartet oder der große Torvald Helmer einen komplexbedingten Wutanfall erleidet. Über die Jahre wurde Nora zum Glück immer größer, selbstbewusster, feministischer – dafür jedoch die Nebenfiguren noch kleiner bis gestrichen. Und wenn die vier Silben des namenlosen Paketboten im Ursprungsstück zelebriert werden und all die anderen vergessenen Figuren mit Eindrücklichkeit darstellen, was sie eigentlich alles zu bieten hätten, werden elegant patriarchal-kapitalistische Strukturen, soziale Ungleichheit und überholter Starrsinn angeprangert.
In der Umsetzung wird es durchaus mal laut, es wird gemeinsam oder allein gesungen (sehr ansprechend gemacht von Romy Camerun!), viel synchron gesprochen und das alles mit scharfer Zunge. Marie Hanna Klemm, Rumo Wehrli und Hannah Weiss verkörpern verschiedenste Rollen, ohne dabei ihren je eigenen starken Charakter zu verlieren und geben dem Stück durch ihre wortgewandte Direktheit einen erklärenden Rahmen. Immer wieder kommt eine Handkamera zum Einsatz, die einen erfrischenden Bruch ins Bühnengeschehen bringt und die Schauspielenden in Nahaufnahme zeigt, wenn sie auf der weißen Scheibe in der Mitte der Bühne agieren. Diese Scheibe markiert die Innenwelt des Herrenhauses, in der ein Weihnachtsbaum, ein Geschirrspüler und ein Sessel als einzige Requisiten die trostlose klassische Häuslichkeit repräsentieren.
Bis auf den legendären Wutausbrauch bleibt der Einspringer Tobias Graupner als Herr Helmer bewusst blass, ergänzt das Ensemble um die Schneewittchen-Nora im ausladenden Reifrock jedoch perfekt, indem er sich im Hintergrund hält. Und die stellt, entgegen der eigentlichen Message des Stücks, alle anderen Figuren dank ihrer Besetzung dann doch ein wenig in den Schatten. Denn Juliane Böttger verleiht ihrer Nora eine starke Stimme, genialen Sarkasmus, eine bewundernswerte Selbstsicherheit und porträtiert die panische Egozentrik dieser Figur erstklassig.
Die von Romy Camerun dargestellte Anne-Marie alias „das Kindermädchen“ bekommt schließlich noch einen Sonder-Auftritt – und das Stück damit eine weitere Wendung. Die Erinnerung an die Forderung nach Familienkompatibilität ist noch ganz frisch, da wirft das Stück in den Raum, Anne-Marie hätte ihre Kinder für Nora verlassen! Aber, aber – tut das denn jetzt wirklich was zur Sache? Und ob. Da ist einiges an Doppelmoral im Spiel, der eigentlich nur eine Sache guttäte: Weg damit. Muss man ein Stück aufgreifen, dessen Prinzipien eigentlich überholt sind? Könnte man stattdessen nicht auch mal etwas Neues schreiben, denn wie Marie Hanna Klemm ausruft, sind wir doch jetzt lebendig!
Gegen Ende des Stücks folgt die Kamera den Schauspielenden unter die Bühne, wo sie ein wenig zu lange und zu häufig noch einmal ihre starken Positionen wiederholen. Den tatsächlichen Schluss bildet eine Tanzeinlage, bei der schon jeder Satz der letzte sein könnte – doch das Ensemble hört nicht auf, Missstände anzuprangern, so leicht soll man nicht davonkommen. Diese Ideen sind zwar toll, hätten aber eine Kürzung vertragen, um den Aussagen nicht ihre Schärfe zu nehmen. Dennoch bleibt die Selbstreferenzialität des Theaters durch die Auflösung der Bühne ein optisches Highlight.
Der tosende Applaus bestätigt meinen subjektiven Eindruck – der Logik dieser Ausführungen und der Sogwirkung dieses grandiosen Zusammenspiels kann sich niemand entziehen. Das Schauspiel-Sextett legt eine Gelassenheit an den Tag, die den brisanten Themen den angemessenen Raum bietet, und wird trotz humorvoller Einlagen niemals unernst. Nora oder Wie man ein Herrenhaus kompostiert unter Nina Mattenklotz‘ Regie und Anita Augustins Dramaturgie ist ein Highlight, das man gesehen haben muss!
Die nächsten Aufführungen finden am 7.3., 8.3., 9.3., 27.3., 27.4. und 28.4. im Markgrafentheater in Erlangen statt.
Weitere Infos: Schauspiel Erlangen – Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert
von Theresia Seisenberger


Bild links (v.l.n.r.): Marie Hanna Klemm, Rumo Wehrli, Hannah Weiss, Bild rechts (v.l.n.r.): Rumo Wehrli, Marie Hanna Klemm
Fotos © Martin Kaufhold