„‚Weißt du, das ist gar nicht so schlimm, wenn du mich verlässt – ich komme einfach mit!’“
—
Abel und Joe von Michael Sollorz wurde ursprünglich 1994 im Rosa Winkel Verlag veröffentlicht, den es seit 2001 nicht mehr gibt. Der Albino Verlag nahm nun anlässlich des 30-jährigen Jubiläums eine Neuauflage in sein Programm auf, ergänzt durch ein Nachwort von Katja Ostkamp. Somit wird einer neuen Leser*innenschaft die Möglichkeit geboten, den weiterhin Identifikationspotenzial liefernden Roman zu entdecken.
Michael Sollorz erzählt vom Märchenland und dessen Vergänglichkeit. Der Protagonist Abel streift 150 Seiten lang Anfang der 1990er Jahre durch Berlin und ist auf der Suche – auf der Suche nach Joe, seinem Partner, aber auch auf der Suche nach einer Zweisamkeit, wie sie in seinem Leben Platz hat. Als Abel an einem Morgen nach einer durchfeierten Nacht nach Hause kommt, „[…] färbte sich [der Himmel] wie für einen prächtigen Hochsommertag, doch der Schein trog, die Luft war noch eisig von der Nacht, und Abel spürte, heute wollte der Sommer gehen“. Gegangen und nicht zurückgekehrt in die gemeinsame Wohnung ist Joe und so versucht Abel einen Tag, eine Nacht und einen neuen Tag lang ihn zu finden. Anhand dieser vier zeitlich markierten Kapitel begleitet man Abel bei seiner Suche.
„Verlässt er mich, dachte Abel manchmal, ertrage ich Berlin nicht mehr. Er wusste Joe dachte ebenso. Die Stadt schien ihnen verzaubert, verwunschen durch den ersten Mann, mit dem sie Altwerden möglich nannten.“
Das Berlin der Jahre nach dem Mauerfall dient Sollorz als Hintergrund des Romans und drängt sich dennoch immer wieder in den Vordergrund. Die Unterschiede und Konnotationen von Ost und West ziehen sich als soziale Konfliktlinie durch Abel und Joe. Abel, aus Ost-Berlin stammend, blickt mit Argwohn auf die Veränderungen der Stadt seit der Eingliederung der DDR in die BRD. Erweitert wird diese Spannung durch die Ebene des ewigen Kampfes zwischen In-Berlin-Geborenen und Zugezogenen: „Es gab so viele Männer in der Stadt; und für jeden, der starb, kamen von den Dörfern zwei neue.“ Joe, aus der konservativen westdeutschen Provinz stammend – von Abel Bad Beichte getauft – gehört zu letzteren und kam der Liebe wegen in die Stadt, bis Berlin „nicht mehr nur Abel [war]“. Abel und Joe fangen durch ihre beiden Vergangenheiten in einem getrennten Deutschland und ihre jeweiligen Geschichten mit Berlin das ambivalente Verhältnis zur Stadt ein: feindselig und dennoch Heimat. Und trotzdem halten sie sich gegenseitig dort.
„«Wir hatten viel Spaß und brüllten vor Lust, wenn die Stille nicht auszuhalten war. Es hört wohl erst auf, wenn das Begraben beginnt. Vorher, all die Jahre – es war eine gute Zeit.» / «Es war eben Märchenland.»“
Nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch die AIDS-Epidemie prägten das Berlin Anfang der 1990er Jahre, in dem Abel nach Joe sucht. Abel hangelt sich an Orten, die gemeinsame Orte geworden sind, entlang. Die Wohnung eines Liebhabers, die Sauna, der Park und immer wieder eine Kneipe bilden die Stationen des Weges, von dem er sich erhofft, dass er ihn zu Joe führt. Die Erinnerungen, die dabei aufkommen, führen immer wieder die Vergänglichkeit des Märchenlandes schmerzlich vor Augen: „Sommernachtsträume im Märchenpark, sie verloren an Glanz“. Abel trauert der Leichtigkeit des Cruisings vor HIV und AIDS nach. Sollorz fängt in Abel eindrücklich die Verweigerung ein, anfangs die Realität von HIV anzuerkennen und somit die Sorglosigkeit des Märchenlands zu verabschieden: „Die Einsicht kam traurig und lustvoll zugleich, und plötzlich wusste Abel, warum er den Jungen verschmäht hatte. Es war nicht die geraubte Lust, der Erste zu sein, im Gegenteil; es war der Gummi.“
Am Protagonisten verhandelt Sollorz die Verlustangst der Freiheit, die Bedrohlichkeit der Furcht und die Versuche mit Ignoranz und Wut die Angst zu maskieren: „Manchmal zuckte er im Park zusammen. Er trat nach der Furcht, sie umtänzelte ihn höhnisch kläffend. Sie wollte ihn in seine vier Wände locken, sie wollte, dass er die Tür verriegelte. Schon am Morgen war alles ein schlechter Traum, zwei Spritzer Mundwasser mehr – vorbei. Die Furcht glich dem Virus. Keiner wusste, wie es morgen gehen würde. Oft fürchtete er, Gesichter von gestern zu treffen. Erkannte er sie nicht, war es gut. Übersahen sie ihn – umso besser. Er wollte sich nicht erinnern.“
„Keiner hat mich. Keiner hat mich je gehabt. Ich suche es, ich suche es schon immer, aber es ist noch nie gewesen.“
Die Veränderungen Berlins und die Veränderungen einer Beziehung definieren den Roman. Abel sucht zwar Joe, aber erinnert sich auf seiner Suche an andere Liebhaber, an andere Momente, in denen er der Liebe nah gekommen ist. Diese Reflektionen kehren immer wieder zur Frage zurück, wie sich eine Beziehung so gestalten kann, dass alle Beteiligten glücklich sind. Welche Bedürfnisse wie erfüllt werden können, ohne, dass sich der andere zu sehr verbiegen muss? Wie Menschen mit ihren unterschiedlichen Prägungen zusammenfinden können, ohne ihre Individualität zu verlieren? Abel und Joe „[…] versuchten alles. Das Gemeinsam-Mitgehen. Das Mitnehmen. Das Dienstags-getrennt-Losziehn. Das Über-alles-Reden. Das Nichtwissenwollen.“ Solche Diskussionen über offenen Beziehungen und all ihre Konstellationen sind auch 30 Jahre nach Erscheinen des Romans aktuell, wenn nicht noch aktueller.
„Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen. Aber Abel war nicht ausgezogen. Er hatte brav in seiner Straße gesessen und gewartet, auf schöne und weniger schöne Männer, auf den Postboten, den Sommer und einen guten Film.“
Sollorz verwendet eine sich fließend verändernde Form. Im steten Wandel gehen die Erzählung in Rückblenden, innerer Dialog und Sequenzen, die an Tagträume oder Illusionen erinnern, ineinander über. Dabei verwendet der Autor eine bildliche, fantastische, mythische Sprache, die gespickt ist mit literarischen Referenzen, bzw. Bezügen zu Märchenerzählungen. Besonders das sprachliche Spiel mit dem Sommer, der Furcht und dem Herz des Romans, dem Märchenland, zeichnen den Stil des Autors aus. Sollorz versteht es Szenen atmosphärisch in prägnantem Stil zu setzen, dass Prosa in Poesie verschwimmt.
Eine Empfehlung für Abel und Joe, um Michael Sollorz‘ sprachlichem Können beizuwohnen und sich auf den melancholischen Streifzug Abels entführen zu lassen!
von Michaela Minder

Michael Sollorz
Abel und Joe
Albino 2024
156 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-86300-380-7