Muss der Mensch wirklich noch denken?
—
„Edgy, modern, mysteriös“ – das sind wohl die ersten drei Assoziationen, die sich zu Beginn des Stücks auftun. Als am 21.03.2025 die beiden Hauptfiguren Leonce (Pit Prager) und Lena (Jeanne Le Moign) den runden beweglichen Bühnenboden lange und bedächtig im Kreis herumschoben, gaben sie den Zuschauenden Zeit, im Jetzt anzukommen und sich auf diese besondere Aufführung vorzubereiten – und die Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Leonce und Lena in Wilke Weermanns Fassung zieht die Zuschauerschaft in seinen atmosphärischen Bann.
In dieser dämmrigen Version blitzt Georg Büchners Grundlage zwar immer wieder auf, doch die Handlung entfernt sich stellenweise auch weit davon. Die 1836 von Büchner geschaffene Figur Leonce ist so gelangweilt, dass die spannendste Beschäftigung, der er gemeinsam mit seinem Hofstaat nachgeht, Im-Gras-Liegen ist. Was jedoch kein großes Problem zu sein scheint – bis der König eine Heirat mit Lena initiiert, der Prinzessin eines benachbarten Reichs. Da dies nicht in Leonces Plan vom Nichtstun passt, läuft er kurzerhand weg. Und lernt eine Frau kennen, die wir viel früher als er selbst als ebendiese Lena identifizieren…
Immer im Takt
Der König (oder auch selbstgenannt rex ex machina) wird in der Fassung von Wilke Weermann durch eine Frau repräsentiert (Ewa Rataj). Ebenso tauschen Valerio (Eric Wehlan) und Rosetta (Leon Tölle) ihre*n Vorgesetzte*n – so hat Leonce nun keine verblühende Liebe an seiner Seite, sondern den ulkigen Valerio, während Lena sich mit Rosetta auf die Suche nach einem Heiratskandidaten macht. Die drei genannten Schauspielenden verkörpern auch den Hofstaat und zeigen, wie vielseitig sie spielen können – besonders erwähnenswert ist hier die minutiöse Koordination, oft in Form von Synchronität, die sie an vielen Stellen beweisen.
Leonce jedenfalls ist überzeugt von seinem freien Willen, auch in dieser Version, schließlich hat er sich die romantische Beziehung zu Lena höchstselbst ausgesucht! Das Publikum ist zurecht skeptisch, teasert die Darbietung im ETA doch schon früh an, dass irgendetwas nicht so recht zu stimmen scheint in den Königreichen Popo und Pipi. Der Hofstaat, Leonces Vater und die Bediensteten bewegen sich ruckartig, wie programmiert und ferngesteuert. Sie treten als Aufziehpuppen in pompösen Gewändern auf, die optisch einiges hermachen, aber im Inneren leer zu sein scheinen. Leonce und Lena sind die Ausnahmen, die uns menschlich erscheinen, in Normalgeschwindigkeit sprechen und sich flüssig bewegen. Aber geben sie sich nicht einer gigantischen Illusion hin? Sind nicht auch sie längst dabei, zu Maschinen zu werden, die durch die Gesetzlichkeiten in ihrem begrenzten Kosmos gesteuert werden?
„Mein Leben gähnt mich an!“
Das Stück spielt mit diesem Aspekt deutlich auf die Ver-Technisierung und Über-Medialisierung unserer Gesellschaft an. Der Alltag der Hauptfiguren ist geprägt von überbordender Langeweile, von Apathie und Lethargie. Das ist es schließlich, was sie in ihrem direkten Umfeld als Ideal vorgelebt bekommen. Der ewigwährende Kreislauf wird dabei durch die Drehbewegung des Bühnenbodens visualisiert. Highlights des Stücks sind, wenn Leonce gelangweilt durch Tick Tack scrollt (wirklich fabelhaft umgesetzt vom Hofstaat) oder wenn Lena auf einer Dating-App auf die Suche nach einem Match geht (hier brilliert Leon Tölle noch einmal). Passend zur reizüberflutenden Online-Welt, ist das Ensemble bunt und auffallend gekleidet. Während Leonce und Lena moderne Hippies mimen, ist der Hofstaat in starre Konstruktionen eingeschnürt, die die Beweglichkeit einschränken.
Von ZweZwe nach SkurrSkurr
Bewegung ist ohnehin eines der führenden Elemente im Stück. Die Gestik des Hofstaats ist bizarr und äußerst langsam, immer besonders betont durch die im Kreis fahrende Drehscheibe und das ermüdende Auf-und-ab-Gehen zwischen den drei Bögen, die die Bühne in zwei Halbkreise teilen. Spannende Ausnahmen von der Routine bilden besonders zwei Szenen: Zum einen gehen Valerio und Leonce auf Reisen, wobei sie ihre Gangart immer an die jeweils passierten Reiche anpassen, die noch dazu herrlich skurrile Namen tragen. An anderer Stelle brechen die Figuren aus den gehabten Gewohnheiten aus, indem sie rückwärtslaufen. Ist das ein gutes Zeichen, dieses Anderssein? Oder ist hierin ein großer Rückschritt erkennbar, den nur niemand erkennen möchte?
Leonce und Lena im ETA Hoffmann Theater stellt Sinnfragen, die sich die Protagonist*innen beinahe nicht mal selbst zu stellen trauen: Bin das wirklich ich, der*die da denkt? Möchte ich das, was ich tue, überhaupt? Und wieso bin ich eigentlich hier?
Die Inszenierung unter der Regie des Autors Wilke Weermann bleibt zwar in einem düsteren Setting verhaftet, oszilliert aber zwischen völliger Leere und sinngefüllten Phrasen, die zum Nachdenken anregen, und nutzt vor allem dosierten Humor, der sich um die Schnelllebigkeit der heutigen Gesellschaft rankt, um den Bogen zur aktuellen Zeit aufrechtzuerhalten. Sei es das Auftanken der mechanischen Menschen oder der witzige Verweis auf den Hessischen Landboten durch eine Lieferung mit der Aufschrift „Friede den Palästen“ – immer wieder laden kleine Einlagen zum Schmunzeln ein.
Man könnte sich beinahe freuen ohne diese lästige Melancholie…
Der Schluss wird bewusst offengehalten – wofür entscheiden sich Leonce und Lena? Für ein Leben als Aufziehpuppen wie alle anderen auch? Oder ist da doch noch ein Plätzchen für den freien Willen, falls er denn gefunden wird? Das Stück beantwortet diese Fragen nicht, sondern lässt das Publikum mit einer diffusen Unruhe zurück, mit einer minimal zu großen Prise Perplexität; fragt man sich doch, ob man sich nicht gerade eineinhalb Stunden mit den Figuren im Stück im Kreis gedreht hat, um jetzt wieder am Anfang zu stehen.
Selbst wenn dem so ist, so bietet Leonce und Lena einen fein nuancierten, schauspielerisch anspruchsvollen und kurzweiligen Ausflug in eine Welt, die der unseren gar nicht so fern ist. Und das ist vielleicht die größte Erkenntnis. Wer sich entführen lassen möchte in diese Geschichte, kann dies noch am 04.04., 04.04., 08.04., 09.04., 09.04. sowie am 28.05. und 31.05. tun.
von Theresia Seisenberger und Judith Heruc





