Rachel Aviv – Sich selbst fremd
Rachel Aviv – Sich selbst fremd

Rachel Aviv – Sich selbst fremd

Von der eigenen Spur auf vorgezeichneten Wegen

CW: Bipolare Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression, Diskriminierung, Essstörung, häusliche Gewalt, Mord, Psychiatrie, Rassismus, Schizophrenie, Selbstverletzendes Verhalten, Sucht, Suizid, Tod

Depressionen, Ess-, Angst- und Zwangsstörungen, Schizophrenie, Bipolare Störungen – diese Begriffe kennt man. Wer betroffen ist und die nötige Kraft aufbringen kann, begibt sich am besten in psychotherapeutische Behandlung, wo dann verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch das zugrundeliegende Problem verstanden und bekämpft wird. Doch nicht jede psychische Erkrankung funktioniert gleich – manchmal führen die Lebensumstände und komplexe Gefühlswelten zu völliger Orientierungslosigkeit, sodass zunächst kein Ansatzpunkt für eine Besserung vorhanden ist.

Solchen Geschichten geht die Journalistin Rachel Aviv in Sich selbst fremd auf den Grund. Der Beginn des Buchs erklärt ihre Motivation: Als gerade einmal 6-Jährige erkrankte sie an Anorexie, woraufhin sie in einer Klinik behandelt wurde. Gängige Behandlungsmethoden griffen in ihrem Alter nicht, vielmehr schaute sie sich Verhaltensmuster älterer Mitpatientinnen ab, die sie als Vorbilder empfand. Auch wenn sie letztendlich den Kurs wechseln konnte, stuft die Autorin dieses Erlebnis als maßgeblich für ihre intellektuelle Entwicklung ein – und ein diffuses Gefühl bleibt.

Klare Texte über diffuse Erfahrungen

Ziellosigkeit sowie eine lebenslange Betroffenheit sind der gemeinsame Nenner der Porträts, die sie im Folgenden von fünf Personen mit unterschiedlichen Leidensgeschichten zeichnet, welche ebenfalls nicht in das klassisch-psychiatrische Raster hineinzupassen scheinen.

Ray Osheroff, der ein angesehener Arzt war und an einer erdrückenden Depression litt: „Die vollkommene Abwesenheit von Gefühlen.“
Seine Geschichte ist gleichzeitig auch die der Chestnut Lodge, gegen die er wegen ausbleibender Heilung einen Rechtsstreit führte. Über Jahre hinweg entfremdete er sich von seiner gesamten Familie; sein Dasein widmete er nach seiner Erholung durch Antidepressiva dem Schreiben über diese Krankheit, bis er in Einsamkeit starb.

Bapu, eine Hinduistin, die durch ihre Sehnsucht nach dem Gott Krishna eine Schizophrenie entwickelte: „Hab keine Angst. Das macht mich nur stärker.“
Unter der Last einer traditionell begründeten Zwangsverheiratung und häuslicher Unterdrückung flüchtete sich Bapu ganz in die Religion, sah sich als Frau von Krishna an und lief immer wieder weg. Vor allem für ihre Kinder war die stückweise Verwahrlosung ihrer Mutter eine Belastungsprobe.

Naomi, die sich ständig aufgrund ihrer Hautfarbe verfolgt fühlte und daraufhin ihre Söhne mit in einen Selbstmordversuch riss: „Ich wollte nur, dass sie ein besseres Leben haben.“
Aufgewachsen in einer Sozialbauwohnung, in der Gewalt und mangelnde Privatsphäre den Alltag bestimmten, setzte sich Naomi intensiv mit der Unterdrückung Schwarzer Personen und deren mangelnder psychischen Betreuung auseinander, die kulturelle Hintergründe außer Acht lässt. Infolge ihres Verfolgungswahns sprang sie schließlich mit ihren Söhnen von einer Brücke und fand erst im Gefängnis durch die Musik zu sich selbst zurück.

Laura, die vor der Kulisse eines perfekten Lebens mit einer mutmaßlichen Borderline-Persönlichkeitsstörung zurechtkommen musste: „Ich würde nie ein normales Leben führen.“
Da sie sich nicht zugehörig fühlte und einen enormen Druck verspürte, schlich sich eine Störung ein, die ihre behandelnden Ärzte durch eine enorme Dosis an Psychopharmaka aufzuhalten versuchten. In dieser Geschichte macht sich das Widerspiel der Orientierungslosigkeit durch eine uneindeutige Diagnose und der bestehenden Leistungsfähigkeit in einem nach außen hin völlig „normal“ ablaufenden Leben besonders bemerkbar.

Hava, ehemaliges Idol der Autorin und zeitlebens mit einer Essstörung kämpfend: „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich wirklich gerettet werden will.“
Als das Mädchen, das den Absprung nicht schaffte, schlug sie sich an der Seite ihres Vaters durchs Leben, bis sie viele Jahre später einen Partner kennenlernte, mit dem sie einen ersten großen Schritt Richtung Gesundheit ging. Doch dafür war es zu spät.

Diese Schicksale packen, lassen nicht los, arbeiten in einerm. Wie kann es sein, dass diese psychischen Erkrankungen ein ganzes Leben torpedieren und niemand in der Lage ist, angemessen zu helfen?

„Noch immer hatte ein einzelner Erklärungsansatz zu viel Macht.“

Rachel Aviv zieht ihre Informationen aus Gesprächen mit Angehörigen, teils auch mit den Betroffenen selbst. Ihre gründliche Recherche, die sich nicht mit oberflächlichem Verständnis zufriedengibt, ermöglicht ein differenziertes Bild des psychiatrischen Aspekts einerseits sowie andererseits eine literarische Nacherzählung der Lebensgeschichte der Protagonistinnen, die ähnlich wie ein klassischer Roman fesselt und zum Weiterlesen bewegt. Dabei lässt die Autorin insbesondere den kulturell und traditionell bedingten Lebenswelten der Protagonist*innen viel Raum, um deutlich zu machen, dass diese Hintergründe oft wesentlich mit der Entwicklung der Erkrankung zusammenhängen.

Alle Geschichten enden in irgendeiner Weise versöhnlich, sei es durch den Tod als Ende einer langen Leidensstrecke oder eine neue Chance, Mut und Wissen weiterzugeben, mitunter auch durch Nachfahren. Die Autorin weckt insbesondre Empathie, indem sie von ihrer jahrelangen Einnahme eines Psychopharmakons berichtet, ohne das sie sich bis heute nicht zutraut, eine gute Mutter zu sein.

Diagnosen gibt dieses Buch nicht, ebenso wenig eine Anleitung, wie man trotz psychischer Einschränkungen ein gutes Leben führt. Rachel Aviv macht in ihren Essays sprachlich einfühlsam darauf aufmerksam, dass neben Kindheitserfahrungen auch Faktoren wie Religion, Kultur und Gesellschaft beachtet werden müssen, wenn es um psychische Gesundheit geht. Und dass es eben nicht reicht, Vergleiche heranzuziehen und nach Schema F zu behandeln, da jeder Mensch individuell ist.

Ein Buch, das niederschmettert, aber wachrüttelt, und das ist erfrischend, denn das Leben läuft eben nicht immer rund. Neue Blickwinkel sind gerade für die mentale Gesundheit ein Muss.

von Theresia Seisenberger

Rachel Aviv
Sich selbst fremd
Hanser Berlin 2025
304 Seiten
26,00 Euro
ISBN: 978-3-446-27591-1

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