Benedict Wells – Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben
Benedict Wells – Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben

Benedict Wells – Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben

„‚Äh, Benedict, haben S’nix anderes, was Sie als Leistungskurs nehmen können?‘“

Man möge kaum glauben, dass der vielfach ausgezeichnete Autor Benedict Wells kein geborenes Schreibgenie ist – spätestens seit dem Erfolg von Vom Ende der Einsamkeit (2016), das in 38 Sprachen übersetzt wurde.

Diogenes ordnet Die Geschichten in uns in die literarische Gattung Erzählendes Sachbuch ein. Eine Melange aus Wells‘ Kindheit und subjektiver Darlegung des Schreibprozesses dürfte nur allzu gut Form in dieser Genre-Schablone annehmen. Das erzählende Ich entwickelt sich: Ein Kind, das aufgrund einer psychisch kranken Mutter bereits im frühen Alter viel Verantwortung zu tragen hat und damit umzugehen lernt. Ein Jugendlicher, verloren in einer kalten Wohnung in Berlin. Der Traum des Schriftstellers, der niemals schwindet, umgeben von der nicht zu beschönigenden Lebensrealität.

Es ist berührend, wie Wells seinen Werdegang erzählt und Einblick in seinen Schreibprozess gewährt. Es bewegt, wie ihn auch diesmal im ersten Teil von Die Geschichten in uns eine Figurenzeichnung gelingt, die unter die Haut geht. Wohl wissend, dass der Autor aus seiner Kindheit erzählt. Es ist Kunst, wie die Überleitung von tiefer Berührung in den literarischen Schaffensprozess geschieht.

„Man muss nur diesem ersten Impuls folgen und schauen, was sich aus ihm entwickelt. Es ist:“

Gegliedert in zwei Teile, letzterer nimmt den überwiegenden Teil des Buchs ein, erfährt der*die Leser*in über den Schaffensprozess Wells’. Geglückt sind dabei die Vergleiche die Wells anstellt, um darzulegen, wie es überhaupt dazu kommt eine Geschichte aufzuschreiben, welche Arbeitsphasen ein Schreibprozess enthält und was die schreibende Person dabei für eine Rolle spielt: „In Phasen, in denen ich nicht an Vom Ende der Einsamkeit arbeitete, weil es gerade jemand kritisch gegenlas, lief ich durch die Stadt, hörte Musik und dachte über den neuen Roman nach. Ich wollte, dass er sich so anfühlte wie Alben von Springsteen […].“ Das erzählende Sachbuch ist durchdrungen von Intertextualität und schöpft seine kreative Kraft aus anderen Geschichten, die als inspirierende Impulse für den literarischen Schaffensprozess dienen. Wells legt somit offen, wie der eigene Text durch den Konsum weiterer Literatur im engeren und weiteren Sinne beeinflusst wird. Das Leseerlebnis der Rezipient*innen unterscheidet sich zum Beispiel beim Roman Hard Land, je nachdem, ob sie den Spielfilm The Breakfast Club aus 1985 vorab gesehen haben oder nicht.

Wells bedient sich beim Erklären eines möglichen Entstehungsprozesses logischerweise Begriffen aus dem literaturwissenschaftlichen Jargon, was Leser*innen mit einer hohen Affinität eine leichtere Zugänglichkeit zum Text erlaubt. Hier sei gesagt, Wells arbeitet an einigen Stellen mit Humor, was die Rezeption erleichtert.

Abschließend gewährt der Autor einen Einblick in verschiedene Fassungen von Vom Ende der Einsamkeit sowie seinem jüngsten Roman Hard Land (2021). Originale Straffungen des Textes verdeutlichen so schwarz auf weiß, wie der Arbeitsprozess eines Textes aussehen kann.

Es ist der Funke. Es ist ein Funke, der auf alle Wells-Begeisterten überspringt.

Resümierend sei gesagt: Die Entstehung der Geschichten in Wells Werken, die er in Die Geschichten in uns darlegt, dürften wesentlich interessanter sein, wenn die Plots bereits bekannt sind. Das trifft vermutlich auf die treuen Wells-Leser*innen zu. Vielleicht mag Die Geschichten in uns aber auch eine Chance für diejenigen sein, die der mögliche literarische Prozess des Geschichtenerzählens interessiert, worüber auch der Untertitel Vom Schreiben und vom Leben aufklärt. Es sollten auch all jene zum Buch greifen, die auf ein Namedropping und kluge Zitate in Bezug auf den literarischen Arbeitsprozess nicht verzichten möchten:

„Wir brauchen die Geschichten in uns, aber auch die von anderen, weil wir in ihnen unser Menschsein erkennen; das Vertraute und Fremde, das Gute und die Abgründe.“

von Miriam Mösl

Benedict Wells
Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben
Diogenes, 2024
288 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-257-07314-0

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