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CW: Autounfall, Drogenmissbrauch/-überdosis, Entführung, Erwähnung von Suizid, Femizid, K.O.-Tropfen, Mord, Nahtoderfahrung, physische und psychische Gewalt, Rassismus, sexuelle Gewalt an Frauen, Suizid, Tod, Trauer, Trauma, Unfall
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Daunis Fontaine steht kurz vor einem neuen Lebensabschnitt. Die 18-Jährige hat endlich den Highschool-Abschluss in der Tasche, eine tolle Beziehung zu ihrer Familie und ihren Freund*innen und ist bereit für das College. Ihr Leben scheint weitestgehend unspektakulär. Doch dann wird Daunis Zeugin eines brutalen Mordes – eine Erfahrung, welche ihr sonst so unaufgeregt routiniertes Teenie-Leben nicht nur aus den Fugen geraten lässt, sondern Daunis zur Informantin für das FBI macht und sie somit in die unheimlichen Machenschaften eines geheimen Drogenrings im Inneren ihrer indigenen Community – dem Tribe der Ojibwe – eintauchen lässt…
Zwischen Mordermittlung und Teenie-Gefühlschaos
Was sich zunächst wie ein typischer Krimiplot liest, ist in Angeline Boulleys Debütroman nur eine von vielen Komponenten. Firekeeper’s Daughter verknüpft auf innovative Weise Thriller mit Coming-of-Age-Erzählung, wobei ein Großteil der Handlung auf den kulturellen Hintergründen und Erfahrungen der Protagonistin Daunis und ihrer Community beruht. In vier Überkapiteln, benannt nach den vier Himmelsrichtungen (Waabanong (Osten), Zhaawanong (Süden), Ningaabii’an (Westen), Kewaadin (Norden)), zeigt Boulley eindrücklich die Geschichte einer jungen Native, die repräsentativ für den Kampf vieler Indigener um Gleichberechtigung, Anerkennung und dem Wunsch nach Zugehörigkeit steht. Mit authentischen Bildern, rituellen Szenerien und Redebeiträgen in indigener Sprache verbildlicht Boulley ihre eigene Kultur und das Leben im Alltag der Anishinaabeg auf lebhafte und mitreißende Weise. Die Charaktere sind allesamt nicht nur originell, sondern unfassbar tiefgründig und vielschichtig. Insbesondere Daunis lässt Leser*innen an ihrer umfassenden Charakterentwicklung und dem persönlichen Ringen um Anerkennung in ihrer indigenen Community zuteilwerden. Am Beispiel von Daunis, die zu gleichen Teilen Anishinaabe (Ojibwe) und Weiße ist, situiert Boulley nicht nur die innere Zerrissenheit ihrer jungen Protagonistin, die sich in ihrer Community bisher nur bedingt zugehörig fühlt, sondern demonstriert ebenso ihre doppelte Marginalisierung als Frau und Indigene.
„Nicht jeder erfährt Gerechtigkeit. Am allerwenigsten Nish kwewag.“
Gleichzeitig widmet sich Boulleys Roman der massiven Ungerechtigkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung sowie der generellen systematischen Diskriminierung gegenüber ethnischen Minderheiten in den USA. Vor dem Hintergrund einer Reihe unaufgeklärter Todesfälle macht die Autorin nicht nur auf die erhöhte Vulnerabilität und mehrfache Marginalisierung indigener Frauen im Kontext von Gewaltverbrechen aufmerksam, sondern beleuchtet ebenfalls die vorsätzliche Blindheit der Autoritäten in Bezug auf Gesetzesvollstreckung, Gleichberechtigung und systematischem Rassismus, der viele marginalisierte Gruppen zum Opfer fallen.
„Wir Anishinaabeg stehen nicht still. Wir haben uns immer angepasst, um zu überleben.“
Ein besonderes Highlight an Boulleys Jugendroman ist zudem das beigefügte Glossar sowie das Nachwort, in dem die Autorin erneut auf die Rolle der häufig vergessenen bzw. übersehenen Native Americans in der US-amerikanischen Gesellschaft eingeht. Dabei rückt sie nicht nur den Stellenwert indigener Traditionen und Kultur in den Fokus, sondern betont ebenso die schmerzhafte Realität im Leben vieler Indigener, insbesondere die Lebensrealität indigener Frauen, welche auch heute noch überwiegend stark von struktureller Diskriminierung und sozialer Ungerechtigkeit geprägt sind. Allein ein Blick auf die Gewaltstatistiken verrät, wie wenige Gewalttaten – oftmals begangen von nicht-indigenen Tätern – keinerlei strafrechtliche Verfolgung erfahren.
Insgesamt macht das Buch nicht nur betroffen, sondern vermittelt ebenso wertvolle Eindrücke in das Leben und die Kultur der Ojibwe-Community. Der Roman ist ein Plädoyer gegen die systematische Diskriminierung ethnischer Minderheiten und ein Versuch diesen Gruppen Gehör zu verschaffen. Insbesondere im Zeitalter von steigenden Spannungen und dem Erstarken rechter, nationalistischer Kräfte ist Firekeeper’s Daughter ein wertvoller Beitrag für die differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen, oft vergessenen Kulturen.
Die Rezension zum zweiten Teil der Firekeeper’s Daughter-Reihe findet ihr in unserer 73. Heftausgabe. Beide Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden, da die geschilderten Ereignisse nicht aufeinander aufbauen. Boulleys’ Daunis taucht jedoch auch in diesem Teil der Reihe wieder auf.
von Kristina Steiner

Angeline Boulley
Firekeeper’s Daughter
Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Max
cbj 2022
560 Seiten
20,00 Euro
ISBN 978-3-570-16601-7