„Der Traum, ein anderes Mädchen zu sein“
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CW: Abtreibung, Gewaltdarstellungen, Misogynie, Sexismus
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In ihrem Debütroman Die leeren Schränke von 1974 erzählt Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux vom Aufwachsen der zwanzigjährigen Studentin Denise Lesur, die zu Beginn der Geschichte in den 60er Jahren eine Engelsmacherin aufsucht, um eine illegale Abtreibung durchführen zu lassen. In Retrospektive widmet sich die Protagonistin ihrer Vergangenheit zwischen zwei Welten – aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in dem Lebensmittelladen und der Kneipe der Eltern und dem Besuch der katholischen Privatschule bis hin zum Literaturstudium. In rauer Sprache wird das Aufwachsen der Protagonistin Denise Lesur zwischen den einengenden Vorstellungen der Gesellschaft, strikten Geschlechterstereotypen und dem Wunsch nach dem Klassenaufstieg in einem fortlaufenden Monolog erzählt. Dabei wird nicht ausgespart, wie schwierig es ist, als junge Frau den eigenen Platz in der Welt zu finden. Die Protagonistin stößt immer wieder auf äußere und innere Widerstände, da sie sich stets zwischen der Anpassung an die Mädchen und Frauen der privilegierten Gesellschaftsschicht, den religiösen Vorstellungen von weiblicher Sexualität und der Entfremdung von ihrem Herkunftsmilieu und der damit verbundenen Abgrenzung zu ihren Eltern wiederfindet. „Endlich wie die anderen sein, dieselben Sorgen, dieselben Gesprächsthemen, dieselbe Kleidung…“ – nichts sehnlicher wünscht sich die junge Denise Lesur, um endlich dazuzugehören und sich die sozialen Codes der höheren Klassen aneignen zu können.
„Ich bin ja nicht mit dieser Wut zur Welt gekommen“
Pointiert malt Annie Ernaux ein Gesellschaftsbild, welches sich auf patriarchale und hierarchische Strukturen beruft und eine Anpassung erwartet, aber auch erschwert. Der Schwangerschaftsabbruch an sich steht zwar am Anfang, wird jedoch in Die leeren Schränke nur stellenweise thematisiert – eher wird eine Rückschau auf wichtige Lebensereignisse von Denise Lesur beschrieben, die scheinbar unausweichlich zur Abtreibung, „das von vornherein Verbockte“, geführt haben. Gerade bei der Betrachtung des Gesamtwerks von Annie Ernaux fällt im Gegensatz zu den Folgeromanen auf, dass ihr Debüt sprachlich durch obszöne Metaphorik noch wesentlich jünger gestaltet ist. Die Protagonistin Denise Lesur ist zwar fiktiv, doch ihre Geschichte deckt sich nahezu exakt mit dem Aufwachsen und den Erlebnissen Annie Ernauxs. In ihrem bekannten Roman Das Ereignis, welches von ihrer eigenen Abtreibung handelt, erzählt Ernaux dann schließlich ihre eigene Geschichte. Die leeren Schränke ist eine gute Ergänzung für alle, die sich schon einmal näher mit Ernaux’s Werken beschäftigt haben und die Thematik vertiefen wollen – für alle, die erstmals ein Werk von Ernaux in die Hand nehmen, ist Das Ereignis ein passenderer Einstieg.
von Karina Hein

Annie Ernaux
Die leeren Schränke
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag 2023
218 Seiten
23,00 Euro
ISBN 978-3-518-22549-3