Zehn Zentimeter über dem Abgrund
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In Schweben ist alles anders. Die Hitzekatastrophe ist überstanden, Gewalt nur noch eine Notlösung und das Leben in der Siedlung verläuft in geordneten Bahnen. Ist das also gut? Die Autorin Amira Ben Saoud beantwortet die Frage von Beginn an mit ihrem beunruhigend nüchternen Schreibstil und einem Epilog, der vor Grausamkeit strotzt. Von wegen gewaltlos.
Die Protagonistin geht solchen Fragen aus dem Weg. Wer sie ist? Niemand weiß das, am wenigsten sie selbst. Ihre Figur nähert sich kontinuierlich gefährlichen Wahrheiten und reagiert stets mit dem gleichen Instinkt: Flucht. Doch wohin? Was ist der am weitesten entfernte Ort, wenn niemand die Grenzen zum „Draußen“ überqueren darf, wo man sowieso sterben würde? Die namenlose Person findet eine Antwort im „Drinnen“, die doch so viel mehr Raum einnimmt, als sie eigentlich ahnt. Sie verlässt entschieden dieses Individuum, das ohnehin nur noch ein Schattendasein führt, und verwandelt sich in andere Personen.
„Ich vermisste es ein anderer Mensch zu sein.“
Für die überwiegend als Emma auftretende Figur ist ihr neuartiger Beruf der „Begegnung“ der einzige Ausweg aus der eigentlich ausweglosen Situation, in der sie sich gefangen sieht. Die Aufgabe besteht darin, Beziehungen nachzustellen, die jedoch keine Chance mehr auf ein Happy End bieten. Ein Geschäft mit höherer Nachfrage, als man meinen würde. Das Leben in der Siedlung wird überwiegend trist gezeichnet: ständige Kälte, Angst vor einer Exilierung, sobald man über das „Draußen oder Davor“ spricht, kaum genug importierte Lebensmittel und am präsentesten: keinerlei Perspektiven. Ben Saoud malt eine geisterhaft leere Welt, die dystopisch anmutet und durch die Farben auf dem Cover beinahe verhöhnt wird. Ihre kurzen prägnanten Sätze, die die Handlung aus der Perspektive der Protagonistin schildern, vermitteln ein beklemmendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das jeglichen Erfolg übertüncht und die depressiv anmutende Figur in zahllose schlechte Entscheidungen stürzt.
Einzig die Konflikte sind gleich geblieben, erinnern deutlich an Geschichten aus der heutigen Zeit. An dieser Stelle kommt „Emma” ins Spiel, ein Auftrag, der seinen ursprünglichen Rahmen gehörig sprengt. Gil möchte seine mysteriöse Freundin Emma ersetzen, die die Siedlung freiwillig verlassen hat – doch selbst das weiß eigentlich niemand gesichert. Von Beginn an weiß die Protagonistin, dass ihr neuer Kunde gewalttätig ist, es scheint ihr allerdings egal zu sein, oder einfach keine Rolle mehr zu spielen. Durch Gil wird die Gewalt verkörpert, die ab Beginn der Arbeitsbeziehung noch drohender über dem Szenario hängt und nur darauf wartet, ganz hervorzubrechen. Für einen gewaltlosen Ort beherbergt die Siedlung in Schweben enormes Gewaltpotenzial, das sich hinter verschlossenen Türen öfter entlädt, als vom System gedacht. Gil missbraucht die Protagonistin emotional, macht die gemeinsame Zeit zumindest für die Lesenden unerträglich, und die neue Emma? Lässt alles mit sich geschehen.
„Irgendetwas ist mit dieser Siedlung nicht in Ordnung.“
„Hier stimmt überhaupt nichts, tu doch etwas, Emma!“, möchte man schreien. Die Geschichte wühlt auf, fesselt, obwohl sie keinen Spaß macht. Stück für Stück werden durch gedankliche Rückblenden Details der Vergangenheit freigelegt, die Emma vor etlichen Begegnungen und Namen ihre Substanz geraubt haben. Die Fakten schockieren, doch viel mehr schockiert die Tatsache, dass die Protagonistin immer tiefer in die Abhängigkeit von Gil rutscht, obwohl es da noch Juri gibt, der ihr Halt und Liebe geben würde, wenn sie ihn nur ließe. Juri ist es auch, der schließlich immer öfter Anomalien an der Siedlung entdeckt, die ein großes negatives Ereignis erahnen lassen, das vielleicht alles verändern könnte…
Emma ist aufgewühlt, sie kratzt immer wieder am Rand von Emotionen, doch sie dringt nicht ganz zu sich selbst durch. Mehr und mehr verschwimmt die Realität mit ihren beängstigenden Träumen, bis die Wahrnehmung der Frau sogar an Halluzinationen erinnert. Ganz langsam nähert sich die Protagonistin trotzdem einer Wahrheit an, von der weder die Lesenden noch die Figuren im Roman zu wissen scheinen, ob sie überhaupt existiert, als plötzlich alles buchstäblich in die Schwebe gerät.
„Mit dem Unmöglichen darf man sich nicht einfach so arrangieren.“
Der Roman hält seinen Spannungsbogen aufrecht: Man rechnet mit einem verheerenden Wendepunkt, einem Ereignis, das alles verändert – und doch wird diese Erwartung enttäuscht. Ben Saouds Roman schwebt sprachlich und inhaltlich immer näher dem Abgrund entgegen und bewegt sich dabei weiterhin in schwereloser Stille, der Knall bleibt aus.
Auch wenn das Ende etliche Deutungen öffnet, ist es schwer, sich assoziativ für eine davon zu entscheiden, dafür bleibt der Roman zu vage, die Figuren zu blass. Emma und ihre Geschichte spielen ganz knapp über und vor dem Abgrund und berühren doch nie ganz den Boden. Genau das macht Schweben jedoch zu einem interessanten Debüt: Die Autorin fängt die Identitätslosigkeit eines ganzen Kollektivs sprachlich ein, macht Zwänge offensichtlich, aber nicht ganz greifbar und lässt Emotionen kurz vor dem tatsächlichen Fühlen einfach schweben. Und so fühlt man sich beim Schließen des Buchdeckels zwar, als hätte man einen gezielten Gedankenanstoß zur Klima-Verantwortung und zu mehr Awareness für toxische Beziehungen erhalten, bleibt aber dennoch mit einem etwas farblosen Leseeindruck zurück.
von Theresia Seisenberger

Amira Ben Saoud
Schweben
Zsolnay 2025
192 Seiten
23,00 Euro
ISBN 978-3-552-07520-7