Tyler Wetherall – Amphibium
Tyler Wetherall – Amphibium

Tyler Wetherall – Amphibium

Ein Amphibium der Kindheit und Adoleszenz

CW: Depressionen, Sexueller Missbrauch

Was bedeutet es, wenn das eigene Erwachsenwerden nicht mit Aufbruch, sondern mit Angst beginnt? Wenn der Körper sich verändert – nicht nur innerlich, sondern sichtbar und fremdartig? Tyler Wetheralls Roman Amphibium (aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn) begleitet die zwölfjährige Sissy auf ihrem Weg durch einen Sommer, der alles verändert.

Sissy ist zwölf und steht an der Schwelle zur Adoleszenz. Ihr Körper beginnt sich zu verändern, und zwar nicht metaphorisch. Wetherall benutzt eine bildhafte Sprache, die in den magischen Realismus kippt: Sissy entwickelt Schwimmhäute, Kiemen, sogar einen reptilienartigen Schwanz. Der Körper wird zum Zeichen des Übergangs, zur Manifestation einer Angst und Fremdheitserfahrung, die viele Mädchen kennen – die Angst vor dem Frauwerden. Wetherall gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die innere Zerrissenheit eines Mädchens darzustellen, das in eine Welt hineingeworfen wird, für die es noch keine Sprache hat. Die Erfahrungen des Körperwerdens, der ersten sexuellen Neugierde sowie der Abscheu davor und das Ringen mit Rollenbildern und Erwartungen – all das beschreibt die Autorin mit einem feinen Gespür für Ambivalenzen.

„Tegan buhlt nie um Macht wie die anderen Mädchen. Die Macht fliegt ihr zu, und sie nutzt sie schamlos aus.“

Als Sissy die ein Jahr ältere Tegan kennenlernt, beginnt eine intensive, fast rauschhafte Freundschaft. Die beiden Mädchen erkunden gemeinsam ihre Körper, ihre Grenzen und eine neue, oft widersprüchliche Welt zwischen Faszination und Angst. Sei es nun der beste Freund der älteren Schwester oder ein Unbekannter aus dem Netz. Die beiden Mädchen suchen nach Erfahrungen, die sie eigentlich noch nicht bereit sind zu machen. Die Autorin schildert dabei sehr eindrücklich die Faszination und die Angst, die mit den ersten Schritten in die Erwachsenen- und Beziehungswelt einhergehen. Gleichzeitig sieht man, wie einschneidend eine so enge Freundinnenschaft sein kann. Machtverhältnisse verschieben sich, Versprechen werden gebrochen, Vertrauen wird verraten. Wetherall gelingt es, diese Freundinnenschaft nicht zu romantisieren. Sie ist zärtlich und grausam zugleich – wie das Erwachsenwerden selbst.

„Mou hat mich angelogen: Mädchen können am Frauwerden sterben.“

Vor diesem persönlichen Hintergrund entfaltet sich ein düsterer Subtext: In der Stadt verschwinden immer wieder Mädchen, die später tot aufgefunden werden. Diese latente Bedrohung, die nie ganz greifbar, aber stets spürbar ist, verstärkt das Gefühl der Verletzlichkeit und verleiht dem Coming-of-Age-Roman eine beklemmende Atmosphäre. Die Angst ist ein ständiger Begleiter, die Bedrohung ist diffus, aber präsent. Sissy und Tegan stellen sich vor, wie ihre Vermisstenposter aussehen würden. Eine makabre Fantasie, die zeigt, wie eng Naivität und Todesangst beieinanderliegen können.

Ein besonders starker Erzählstrang ist außerdem die Familiensituation: Sissys Mutter ist alleinerziehend und leidet an Depressionen. Dadurch wird ihre Tochter in eine Rolle der Verantwortlichkeit gezwungen. Sissy hat das Gefühl, für das Glück ihrer Mutter verantwortlich zu sein, woraus sich eine verdrehte Mutter-Tochter-Beziehung ergibt, die ebenso liebevoll wie belastet ist. Es ist ein weiterer Knotenpunkt im Netz aus Verantwortung, Überforderung und Selbstbehauptung, in dem Sissy sich zurechtfinden muss.

„Am Ende gibt es nur unsere Freundschaft und den Verrat und die trüben Wasser dazwischen. Durch diese Wasser sind wir geschwommen, um hierherzugelangen, haben uns wie unsere amphibischen Vorfahren aus der Ursuppe gehievt, im Werden begriffen.“

Amphibium ist ein intensives, poetisches Buch über das Erwachsenwerden unter unsicheren Bedingungen. Es erzählt von Freundinnenschaft und Macht, von Begierde und Bedrohung, von der Suche nach Identität in einer Welt, die kaum Schutz bietet. Ein Roman, der nachhallt – leise, aber eindringlich.

von Judith Albert

Tyler Wetherall
Amphibium
Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn
dtv 2025 
352 Seiten  
25,00 Euro  
ISBN  978-3-423-28456-1

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