Kinder ihrer Zeit
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„Wann bist du evakuiert worden? Noch im zwanzigsten Jahrhundert? Nein, sag es nicht. Ich habe gleich gesehen, dass wir aus demselben Jahrhundert stammen, dich würde ich aber etwas später einordnen, eher gegen Ende, in die neuzehnhundertneunziger Jahre?“
Phantomerinnerungen, Bilder, die sich wie Erinnerungen aufdrängen, ohne, dass sie erlebt wurden – in Franz Friedrichs Roman Die Passagierin ist dieses Symptom ein Nebeneffekt des Zeitreisens. Die Protagonistin Heather Hopeman möchte sich deren Aufarbeitung widmen, indem sie nachKolchis zurückkehrt. Dieser ‚Hafen der Zeit‘ war nach ihrer Evakuierung aus der DDR 1998 ihre erste Anlaufstelle, gewissermaßen ein Vorbereitungscamp für das bessere Leben in der Zukunft. Heather ist eine von etwa 300.000 Auserwählten, die in humanitären Rettungsmissionen ihrer Epoche enthoben und in eine nicht näher bestimmte Zukunft versetzt wurden, da sie in ihrer jeweiligen Gegenwart todgeweiht waren. Nun, zum Erzählzeitpunkt, sind derartige Rettungsaktionen jedoch Geschichte und Kolchis verfällt zusehends.
„Sie sagen, die Vergangenheit müsse ruhen. Man sei zu optimistisch gewesen, das Gefühl der Schuld lasse sich nicht auflösen, nicht, wenn man nur Einzelne evakuiere, und alle seien nicht möglich.“
Heimatlose, aus der Zeit gefallen
Nur wenige Bewohner*innen weilen noch dort und versuchen, Erlebtes und scheinbar Erlebtes ihrer Vergangenheit(en) zu verarbeiten. In täglichen Gruppensitzungen lernt Heather die Bewohner*innen, die ihr Exilantinnenschicksal teilen, besser kennen. Statt um ‚Displaced‘ handelt es sich bei den Figuren um ‚Distimed Persons‘, denen die Integration in die ihnen versprochene sichere Zukunft nicht recht gelingen will, die mit einer Art von ‚Survivor Guilt‘ hadern. Besonders den aus der Frühen Neuzeit stammenden Landsknecht Matthias lässt das Wissen nicht ruhen, dass seine (damaligen) Zeitgenoss*innen nicht die Möglichkeiten und Erfindungen der folgenden Jahrhunderte erleben konnten – wie etwa den Regenschirm oder die frühere Einführung der Kartoffel…
Mit großer Empathie und in einer poetisch-ruhigen Sprache geleitet Franz Friedrich durch seine moral- und geschichtsphilosophischen Betrachtungen. Nostalgie schildert er im Wortsinn als eine schmerzreiche Rückkehr, im Limbo zwischen Raum und Zeit. Schon dadurch, dass er Kolchis, als antikes Königreich bekannt aus der griechischen Mythologie, als liminalen Ort einer gescheiterten Utopie zeichnet, zeigt sich Friedrichs Vermittlungsleistung zwischen historischen Rückverweisen und zukunftsfähigen Metaphern.
Geistreich, aber nicht im Zeitgeist
Es liegt nahe, das Aufeinandertreffen traumatisierter Personen mit verschiedenen zeitlichen Hintergründen als Kommentar auf Migrationsdebatten zu interpretieren. Friedrichs zeitloser fantastischer Realismus verwehrt sich aber einer simplen Rückführung auf die gegenwärtige Realität. Sein Werk ist in vielerlei Hinsicht anachronistisch – es sperrt sich gegen schnelles ‚Herunterlesen‘ und hält an seiner Komplexität fest. Die Feinheiten subjektiver, linearer oder punktueller Zeitwahrnehmung schlagen sich im Aufbau des Buches nieder: Während Heathers Aufenthalt zu Beginn in aufeinanderfolgenden Tagen geschildert wird, umfassen spätere Kapitel Wochen oder Monate. Durch die Kapiteleinteilungen wie durch das selbstverständliche Aufeinandertreffen verschiedener Jahrhunderte weitet sich der Blick für immer größere Dimensionen und Zeiträume.
Bei der Lektüre wähnt man sich oft der Zeit enthoben, denn die geniale Ausgangsidee verläuft sich bisweilen in länglichen Schilderungen. Womöglich aber ist auch dieses Mäandern ein literarischer Kunstgriff: In den elegischen Passagen fühlt man sich beinahe so verloren wie die Bewohnenden der verwaisten Sanatorien.
Die Passagierin braucht Zeit und Lesende brauchen dafür Geduld, doch lässt man sich auf die besondere Erzählwelt ein, hallt das vielschichtige Gedankenexperiment zwischen ‚Shutter Island‘ und ‚Utopia‘ lange nach.
von Jana Paulina Lobe

Franz Friedrich
Die Passagierin
S. Fischer Verlag 2024
512 Seiten
25,00 Euro
ISBN 978-3-10-397117-0