Mathieu Kassovitz – La Haine
Mathieu Kassovitz – La Haine

Mathieu Kassovitz – La Haine

24 Stunden in einer Pariser Banlieue

„Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein“.  Dieses Zitat von Mahatma Gandhi bringt die Essenz des französischen Spielfilms La Haine (zu Deutsch: Hass) auf den Punkt: Das Prinzip der Rache erzeugt nur neue Gewalt und resultiert in einem endlosen Kreislauf der Brutalität. Auch dreißig Jahre nach seinem Erscheinen bleibt der 98-minütige Schwarzweißfilm aktuell. Anlässlich dieses Jubiläums wurde er am 25.09.2025 im LICHTSPIEL in Bamberg im Rahmen der Reihe Filmklassiker im Kino gezeigt.

Regisseur Mathieu Kassovitz orientierte sich bei der Konzeption wohl an der klassischen Dramentheorie und den drei aristotelischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung:

  • Einheit des Ortes: der Film spielt, bis auf einen nächtlichen Ausflug in das Herz der französischen Hauptstadt, in einer fiktiven Banlieue (Vorort) von Paris.
  • Einheit der Zeit: die gesamte Handlung erstreckt sich über 24 Stunden, wobei Einblendungen dem Publikum die Uhrzeit der jeweiligen Sequenz präsentieren
  • Einheit der Handlung: La Haine folgt klar einem geschlossenen, kohärente Hauptstrang, der ganz ohne Nebenhandlungen dem Tag der drei Protagonisten folgt.

Doch wer sind diese Protagonisten und worum geht es in La Haine, einem Film dessen Titel übersetzt nichts weiter als „der Hass“ bedeutet? Kurz gesagt: Es geht um den Teufelskreis von Gewalt und Gegenwalt, ausgelöst durch soziale Ungerechtigkeiten. Der Film beginnt um 10:38 Uhr mit einem Nachrichtenbericht, der die nächtlichen Krawalle vom Vortag Revue passieren lässt und das Banlieue als einen von Perspektivlosigkeit, Radikalisierung und Polizeigewalt geprägten Ort zeigt. Hier leben die drei Freunde Vinz (Vincent Cassel), Hubert (Hubert Koundé) und Saïd (Saïd Taghmaoui) – drei Jugendliche, die Randgruppen der Gesellschaft repräsentieren: Vinz ist Jude, Hubert Schwarz und Saïd Araber.

Aus den Nachrichten erfahren sie, dass ihr Freund Abdel (Abdel Ahmed Ghili) bei den nächtlichen Ausschreitungen schwer von einem Polizisten verletzt worden ist. Die nächsten 24 Stunden zeichnen den Alltag der drei Jugendlichen, ihren Umgang mit besagter Polizeigewalt sowie das Leben in einem marginalisierten, vom Staat vernachlässigten Milieu. Geprägt von Konflikten und Problemen mit der Polizei laufen die Jugendlichen fast ziellos durch ihr Viertel und warten auf Nachrichten über Abdel. Gerade in diesen Anfangssequenzen wird der Lebensraum der Jugendlichen als gewaltbeladen und isoliert dargestellt: Ein Umfeld, das unschuldige Jugendliche zu gewaltbereiten und hasserfüllten Menschen machen kann.

Ein Ausflug der Protagonisten in die Pariser Innenstadt zeigt, dass der Kreislauf der Gewalt nicht auf die Banlieue beschränkt ist. Die Jugendlichen tragen ihr Misstrauen und ihre Aggressionen gegen Autoritäten tief in sich. Hass und Wut ist nicht einfach nur Produkt ihres Wohnortes, sondern vor allem ihrer sozialen Erfahrung und gesellschaftlichen Ausgrenzung. Denn auch in der Hauptstadt werden sie von der Polizei wie Außenseiter behandelt: Hubert und Saïd werden zu Unrecht festgenommen und gequält; Vinz kann fliehen. Nachdem Hubert und Saïd wieder freigelassen wurden, verwüsten die drei Jugendlichen eine Vernissage, geraten mit Neonazis in Konflikt und versuchen, ein Auto zu stehlen. Gerade die Szenen in der Innenstadt verdeutlichen eindrücklich, dass soziale Ausgrenzung, Gewalt und Konflikte nicht nur räumlich, sondern eben auch strukturell sind und dass die Jugendlichen in einem Kreislauf gefangen sind, den sie kaum verlassen können.

So plötzlich wie der Film beginnt, endet er auch. Die Handlung kulminiert spektakulär mit der Rückkehr in die Banlieue, wo Vinz, Hubert und Saïd erneut mit der Polizei konfrontiert werden. Die Gewalt, die sich über den Tag aufgebaut hat, erreicht ihren erschreckenden Höhepunkt. Das Ende steht symbolisch für den endlosen Zyklus von Hass und Rache. Es ist 06:01 am nächsten Tag.

Eine Geschichte, die sich durch den ganzen Film zieht, illustriert dies trefflich: „Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“ La Haine zeigt den Fall dreier Jugendlicher und endet metaphorisch in ihrer Landung.

„Euch gehört die Welt.“

Die Dynamik der Hauptcharaktere wird subtil durch einen Monolog beschrieben. In Paris treffen die Jugendlichen einen älteren Herren, der ihnen aus dem Nichts eine Geschichte aus seinem Leben erzählt. Er war auf einem Gefangenentransport nach Sibirien und hatte dort einen Freund namens Grunwalski. Sobald der Zug anhielt, gingen alle Gefangenen nebeneinander auf Toilette, nur Grunwalski nicht. Er war zu schüchtern und ging in ein naheliegendes Gebüsch. Als der Zug wieder losfuhr musste Grunwalski rennen. Der Erzähler hielt ihm die Hand aus dem Zug, aber beim Rennen rutschte jedes Mal Grunwalskis Hose runter. Er blieb stehen, um sie hochzuziehen. Dies wiederholt sich immer wieder. In seiner Scham war es ihm nicht möglich den Zug zu erreichen. Er ist in Sibirien erfroren.

Grunwalski steht hier für Vinz und seinen Zyklus der Gewalt und Gegengewalt. Vinz ist wütend, aggressiv und sieht Gewalt und Rache als einzige Lösung, um mit seiner zerstörerischen Umwelt umzugehen. Er fühlt sich ausgeschlossen, versucht durch Gewalt an Respekt zu gelangen und auf sich aufmerksam zu machen. Dabei ist er sehr aufbrausend und stürzt sich geradezu in Konflikte. Ein solches Verhalten findet immer wieder Erwiderung, was den Hass in Vinz nur noch mehr antreibt. Im Laufe des Films findet Vinz die Pistole eines Polizisten und schwört Rache, sollte sein Freund Abdel sterben. Er sieht die Pistole als Symbol für Macht und Anerkennung. Von nun an führt er die Waffe immer bei sich, was zu Konflikten mit Hubert führt. Hubert steht für die Hand des alten Mannes. Immer wieder versucht er Vinz zu beruhigen und Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Er verabscheut den Hass in der Banlieue und möchte diese schnellstmöglich verlassen. Vinz lehnt Huberts Hilfe immer ab. Saïd nimmt hier die Rolle des Vermittlers ein und ist moralisch zwischen den Beiden einzuordnen. Er bewegt sich zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen des Vorortes, ist weniger aggressiv als Vinz, aber auch nicht so besonnen wie Hubert.

„Hass zieht Hass an!“

Trotz seiner vergleichsweisen kurzen Spielzeit ist La Haine ein besonders vielschichtiger Film. Die lineare Erzählstruktur, gepaart mit den eingeblendeten Uhrzeiten, betonen die Unausweichlichkeit dieser Gewaltspirale. Das Schwarzweiß verstärkt beiläufig die Melancholie und Härte des Lebens in den Banlieues sowie die zeitlose Relevanz der Botschaft: Hass zerstört Opfer und Täter. Thematisch ist der Film komplex und gesellschaftskritisch: Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Rassismus in den Banlieues der 1990er Jahre werden schonungslos gezeigt. Die Jugendlichen sind Opfer struktureller Probleme und mangelnder Integration, was in Wut und Misstrauen gegenüber Autoritäten mündet. Auf psychologisch-philosophischer Ebene wird diese Wut als ein Kreislauf von Gewalt und Vergeltung dargestellt, wobei Vinz, Hubert und Saïd unterschiedliche Reaktionen darauf repräsentieren: Aggression, Pazifismus und Opportunismus. Unabhängig von ihren Entscheidungen wird deutlich, dass Hass nur weiteren Hass erzeugt. Aufgrund ihrer sozialen Umwelt, ihrer persönlichen Erfahrungen und institutioneller Missstände, haben die Jugendlichen kaum Chancen aus dieser Gewaltspirale zu entkommen.

„Uns gehört die Welt.“

La Haine ist ein Film, der aufgrund seiner Gesellschaftskritik und sozialpolitischen Aussagen heute noch genauso relevant ist wie vor 30 Jahren. Wen dies noch nicht überzeugt, kann in dem Film auch einfach einen fesselnden Spannungsfilm sehen, der sich von der ersten bis zur letzten Minute exponentiell steigert und in einem großartigen Finale endet. Der Facettenreichtum dieses Films ist das Schöne. Für die eine Person kann er hervorragend als Samstagabend-Actionthriller funktionieren. Die andere Person sieht darin ein gesellschaftskritisches Drama über soziale Ungleichheit und vernachlässigte Jugendliche. Für die dritte Person ist die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt ein eindringliches Plädoyer auf den Pazifismus. Vermutlich ist La Haine alles zusammen.

von Vincent Berwind

Mathieu Kassovitz
La Haine
Im französischen Originalton mit Untertiteln
Frankreich 1995
98 Minuten
FSK 12

Copyright: LES PRODUCTIONS LAZENNEC – LE STUDIO CANAL+ – LA SEPT CINEMA-KASSO Inc PRODUCTIONS (1995)

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