Anne Sauer – Im Leben nebenan
Anne Sauer – Im Leben nebenan

Anne Sauer – Im Leben nebenan

Ist das hier mein Leben?

CW: Blut, explizite Beschreibung einer Fehlgeburt, Mordfantasien, sexueller Übergriff, Suizidgedanken, unerfüllter Kinderwunsch

Ist das hier mein Leben?

Als Toni eines Morgens in ihrem Heimatdorf neben ihrer Jugendliebe aufwacht, stellt sie sich genau diese Frage. Eigentlich wohnt sie mit einem anderen Mann in einer kleinen Altbauwohnung und versucht verzweifelt schwanger zu werden. Zu ihre Verwunderung bemerkt sie plötzlich, dass ein Kind auf ihrem Schoß sitzt. Ist das etwa ihres?

Der Debütroman Im Leben nebenan von Anne Sauer zeichnet abwechselnd zwei Lebensverläufe der Protagonistin Antonia bzw. Toni. Einmal mit (Antonia) und einmal ohne Kind (Toni), aber immer mit der Frage: Welche Bedeutung hat Mutterschaft für das Leben junger Frauen?

„[I]ch hab‘ neulich beim Metzger gestillt, das war ein Highlight, kann ich dir sagen. Erinnerst du dich noch an Herrn Stullenberger, Erdkunde? Der stand daneben, hat sich gerade Lyoner bestellt.“

Während sich Toni in dem einen Leben erfolglos versucht schwanger zu werden, kämpft sie in dem anderen Leben mit den großen Herausforderungen einer frischen Mutterschaft. Geschickt springt der Roman zwischen zyklusoptimiertem Sex und zerbissenen Brustwarzen, zwischen Schwangerschaftstest und Kinderwagenproblemen, sowie zwischen Eizellenentnahme und Mutter-Kind-Kreisen hin und her, wobei die Protagonistin alles davon hasst.

„Man müsse dringend nachsehen, ob in Tonis Gebärmutter alles normal sein. Toni nickt weiter wie ferngesteuert […] Hört, [wie die Ärztin] von Monitoring spricht, von Ultraschall und Blutabnahme, von Hormontherapie und möglicher Insemination, Eizellen entnehmen, einfrieren, befruchten, einsetzen. […] Toni versteht nur: Mein Körper hat versagt.“

Sauers Roman ist geprägt von pointierten Formulierungen und konsequentem Hinterfragen von eingeübten Romantisierungen jeglicher Frauenbilder. Die zweiteilige Erzählung ermöglicht eine ausgewogene und tiefgründige Darstellung, welche viele Impulse bietet, um eigene Ansichten zu überdenken. Mit spitzem Humor räumt sie mit überholten Klischees und gesellschaftlich vermittelten Idealvorstellungen vom Leben mit und ohne Kind auf. Auch scheinbar normale Dynamiken in Partnerschaften enttarnt sie gezielt. Alles so ehrlich und direkt, dass man sofort denkt: „Endlich sagt es mal jemand“ und erst im zweiten Moment: „Hilfe ist das peinlich. Hoffentlich weiß das niemand über mich.“

„Nach sieben Jahren hatten sie ihren Körper krank, kotzend, blutend und kaputt gesehen, hatten sich Suppen ans Sofa gebracht und Blinddarmnarben beim Heilen beobachtet. Hatten sich gegenseitig Pflaster auf Wunden geklebt, sich aneinandergelegt, wenn Verbände nicht halfen. Sie kannten sich mit mehr und weniger Gewicht, sie tanzten voreinander in Unterwäsche […].“

Trotz des lockeren Tons beweist Sauer Fingerspitzengefühl. Zwischen den Zeilen spürt man ihre Empathie für jede ihre Romanfiguren und hört deutlich ihren Aufruf zu weiblicher Solidarität. Die kurzen Kapitel und der schnörkellose Stil sorgen dafür, dass man nur so durch die Seiten fliegt. Die Unterscheidung zwischen Toni und Antonia ermöglicht einen mühelosen Wechsel zwischen den Erzählperspektiven. Unterbrochen wird der Lesefluss nur durch ungünstig formatierte Chatnachrichten, welche sich leider kaum vom restlichen Schriftbild abheben. Diese kleine Schwäche schmälert die Gesamtqualität des Romans jedoch kaum.

 Weibliche Perspektiven werden durch alltagsnahe Sprache zugänglich gemacht und unaufdringlich bringt die Autorin ihre eigenen politischen Standpunkte ein. Elegant tanzt sie auf der Grenze zwischen Roman und Essay. Seite für Seite befreit Sauer nicht nur ihre Protagonistin von Scham, sondern lädt auch Lesende dazu ein, diese abzulegen.

„Wenn ich sage, ich kann keine Kinder bekommen, dann haben immer alle Mitleid. Gespräch beendet. Wenn eine Frau sagt, sie will einfach nicht, und zwar nie, also wirklich nie, dann muss sie sich erklären.“

von Jasmin Fuchs

Anne Sauer
Im Leben nebenan
dtv 2025
271 Seiten
23,00 Euro
ISBN 978-3-423-28483-7

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