Julie Leong – Die Wahrsagerin kleiner Schicksale
Julie Leong – Die Wahrsagerin kleiner Schicksale

Julie Leong – Die Wahrsagerin kleiner Schicksale

Kleine Schicksale – großer Wohlfühlfaktor

CW: Krieg, Tod

Was würde Tao aus deiner Hand lesen?

Wohl nichts Weltbewegendes (auch wenn sie das könnte), denn seit sie mit ihrer Sehergabe in einen tragischen Vorfall verwickelt war, beschränkt sie sich auf kleine Schicksale und zieht mit ihrem Maultier Laohu durch die Lande, um ein paar Münzen zu verdienen. Was die eigenbrötlerische Magierin dabei nicht vorhersieht, ist, dass sie nicht allein bleibt. Um sie sammelt sich eine Gruppe aus einem poetischen Ex-Söldner auf der Suche nach seiner Tochter, einem (angeblich) ehemaligen Dieb, einer Bäckerin, deren Waren glücklicherweise besser schmecken als sie aussehen, und tierischer Unterstützung. Auf ihrer Reise stellen sich Tao und ihre Freund*innen ihrer Vergangenheit und finden nicht nur eine Familie, sondern auch zu sich selbst.

Der Zu-Cozy-Fantasy-Roman?

Mit seiner Found-Family-Trope, der unaufgeregten, unkomplizierten Handlung und dem humorvollen Tonfall ist Die Wahrsagerin kleiner Schicksale der Inbegriff eines Cozy-Fantasy-Romans – für einige ist er sogar zu cozy. Obwohl der Roman gegen Ende Fahrt aufnimmt, besitzt die Handlung keinen wirklichen Spannungsbogen, sondern plätschert vor sich hin. Die Freund*innen reisen durch verschiedene Orte und erleben kleine Abenteuer: für kurze Zeit werden sie zu Schatzsucher*innen oder Motivationscoachs für einen nihilistischen Troll. Die fehlende Dichte des Plots steht zwar im Einklang mit dem Cozy-Fantasy-Genre, hier wäre allerdings ein Ausgleich, beispielsweise durch atmosphärischeres Schreiben, nötig. Dazu passend wirken die Charaktere zwar sympathisch, aber tendenziell formelhaft: eine Einzelkämpferin mit schwieriger Vergangenheit trifft eine Gruppe (darunter einen Mann des Typs „harte Schale, weicher Kern“), die ihr zeigt, dass sie nicht allein ist und sich nicht verschließen muss.

Möglicherweise dem Genre geschuldet, nichtsdestotrotz bedauerlich ist außerdem das Anreißen und Fallenlassen gesellschaftskritischer Themen wie Chancenungleichheit oder Kritik an der Staatsmacht. Einzig das Thematisieren von Rassismus und der Zerrissenheit der Hauptfigur zwischen ihrem Geburtsland und jenem, in dem sie nun lebt, zieht sich durch den gesamten Roman.

Wer allerdings nach einer warmen Umarmung in Gestalt eines ruhigen Cozy-Fantasy-Romans mit einer Prise Humor, Freundschaft und Eskapismus sucht, wird vielleicht bei der Wahrsagerin kleiner Schicksale, dem Maultier Laohu und ihrer Found-Family sein Glück finden.

von Jolanda Hückl

Julie Leong
Die Wahrsagerin kleiner Schicksale
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jara Dressler
Heyne 2025
400 Seiten
18,00 Euro
ISBN 978-3-453-27503-4

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