„In meiner Stadt wirst du etwas, oder aber du fällst aus dem sechsten Stock.“
Arad Dabiri erhielt für sein Stückdebüt DRUCK! den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2024. Nach der Uraufführung im Nationaltheater Mannheim folgt nun eine Nürnberger Fassung unter der Regie von Tuğsal Moğul in den Kammerspielen, erweitert durch einen Zusatz des Autors.
Zwischen auf dem Boden der Tatsachen und am Boden unter verdreckten Springerstiefeln
Hassans (Ioachim-Wilhelm Zarculea) und Shirins (Valentina Schüler) Bruder wurde bei einem Drogendeal festgenommen und erwartet sein Urteil. Seine Geschwister sowie die drei Freunde Murat (Kinan Hmeidan), Omar (Davíd Felipe Gavíria Magalón) und Freddie (Leon Wieferich) warten ebenfalls und sind besorgt – jede*r auf die eigene Art. Für die Jungs lässt sich die Festnahme klar auf Racial Profiling zurückführen, das System, das Österreicher*innen mit iranischer Abstammung eben nicht als Österreicher*innen behandelt, ist schuld, Chancengleichheit eine Illusion. Für Shirin ist es die selbstverschuldete Konsequenz einer verweigerten Integration, sie mahnt, dass man als Kind der Diaspora den Eltern etwas zurückgeben muss, die Chance auf das vermeintlich gute Leben nutzen, und etwas daraus machen muss.
„Ich praktiziere nicht, ich glaube nicht, ich sehe einfach nur so aus.“
Das Bühnenbild (Ariane Salzbrunn) setzt sich aus zwei großen Holzquadern, die sich über die Länge der Bühne strecken, zusammen. In deren Mitte befinden sich an den Enden jeweils zwei kürzere Holzblöcke, sodass dazwischen ein Leerraum entsteht. In dieser Lücke sitzen die drei Jungs auf dem untersten Quader wie auf einer Mauer, lassen die Beine baumeln. Das Gespräch, das mit der Verhaftung ihres Freundes beginnt, zieht schnell weitere Kreise und verhandelt im dichten Schlagabtausch Religion, Identität, Rassismus, Klassismus und Erwartungshaltungen seitens der Familie sowie der Gesellschaft.
„Österreich hat uns alles gegeben.“
„Österreich gibt mir die Kugel.“
Für Hassans und Shirins Szenen weicht die Holzkonstruktion als Parkbank einer symbolischen Sichtbarmachung der systemischen Hürden, indem sich die mittleren kürzeren Holzblöcke immer weiter in die Mitte bewegen. Hassan und Shirin stemmen sich dagegen, stemmen sich gegen die Ungerechtigkeit, die Erwartungshaltungen und werden doch immer mehr in die Mitte, in die Enge getrieben. Der Zwischenraum ist ebenfalls nur so hoch, dass man aufrecht auf dem unteren Quader sitzen, jedoch nicht aufrecht darauf stehen kann. Die Schauspielenden können sich nicht aufrichten, nicht geradestehen, es gibt auch keine gläserne Decke zu durchbrechen, denn die Decke ist aus Holz und unnachgiebig. Die geduckte Haltung, die die beiden für ihre Streitgespräche zwischen Anbiederung und Auflehnung einnehmen müssen, inszeniert eindrücklich systemische Ungerechtigkeit.
Besonders mit dem Erzählstrang Shirins wird die Perspektive einer Frau diskutiert, die das perfide Spiel der Chancen innerhalb der Chancenungleichheit austariert: Österreich bietet ihr als Frau mehr Möglichkeiten als Iran, Österreich gewährt ihr Selbstbestimmung.
Alle fünf Schauspielenden sind mit EKG-Elektroden verkabelt, die Herzfrequenz und Rhythmusstörungen werden stets oberhalb der Holzkonstruktion angezeigt. Als Zuschauer*in verfolgt man, wie der Verlauf ausschlägt, wenn der Druck steigt. Der Druck, der nie abnimmt, der von allen Seiten kommt und der krank machen kann, wenn er zu stark ansteigt, wenn die Belastungen zu groß werden: Broken Heart Syndrome. Der Monolog Hassans wurde für die Nürnberger Fassung von Dabiri zusätzlich geschrieben und verleiht dem Stück eine literarische Ebene, die sich hervorhebt.
İsmail Yaşar, Enver Şimşek und Abdurrahim Özüdoğru ermordet in Nürnberg
Murat, Omar und Freddie wollen den Druck entladen und nicht selbst daran kaputt gehen. Als die Urteilsverkündung drei Jahre für ihren Freund festlegt, kommt es zur Demonstration, die aufgrund von rechtsradikalen, identitären Gegenprotesten eskaliert. Das Bühnenbild verwandelt sich, filmische Sequenzen von Demos und Polizeiaufgeboten werden an die Holzwände projiziert, die Musik schwillt an, die Schauspielenden stehen mit Schildern – ein erneuter Verweis auf Nürnberg – im Zuschauendenraum und schreien Parolen. Die bedrohliche Stimmung ist greifbar, das Licht im Saal geht an, niemand kann sich dem Geschehen entziehen, Aufmerksamkeit wird unweigerlich generiert. Dennoch kann sich das Publikum nach 90 Minuten zurückziehen – für manche ist dieser Druck jedoch Realität, aus der es keinen Rückzug gibt. Dieses Anprangern gelingt durch den dramaturgischen (Dramaturgie: Paul Berg) Höhepunkt des Stücks sehr wirkungsvoll.
Die Kostüme (Ariane Salzbrunn) zeigen in ihrer Einheitlichkeit den Kamm, über den die Dominanzgesellschaft Menschen wie Hassan, Shirin, ihren Bruder, Murat und Omar schert. Die rosa Chinos zu Beginn irritieren kurz, aber dann folgen schwarze Shirts mit rotem Aufdruck der Figurennamen, rote Adidasjogginghosen mit Sneakern, dunkelgrüne Bomberjacken und Balaclavas – minimalistisch, dennoch vielfältig und vor allem effektiv.
„Die einen schreien ,Islamisierung des Abendlandes!‘ Ich schreie zurück ,Leck mich am Arsch!‘ Wer gewinnt? Wer schreit lauter?“
Die Schauspielenden sprechen überwiegend frontal zum Publikum, oft im Chor, auch wenn sie miteinander im Gespräch sind. Dieser Zugang wirkt nochmal einnehmender, und der wohl platzierter Witz, der, stellenweise durch Mimik und Gestik transportiert, für Auflockerung sorgt, kommt direkter rüber. Es muss kein Spagat zwischen Ernst und Humor gelingen, sondern es wird die inhärente Verflechtung aufgezeigt. Das Publikum lacht bemerkenswert oft und herzlich an den Pointen laut auf. Der Sound, der durch die Chöre, den Schlagabtausch, das rasante Tempo und die bedeutungsschweren Pausen kreiert wird, ist eindringlich und erinnert an Juices von Ewe Benbenek aus der letzten Spielzeit, das ebenso grandios ähnliche Sujets im Kontext der Kinder von sogenannten Gastarbeitenden verhandelt.
„Kein Platz für einen Gott, nur Platz für meinen Bezirk.“
DRUCK! spielt in Wien, zeigt aber den Rassismus, von dem auch deutsche Städte durchtränkt sind. Ein Stück, dessen Aktualität für Wien, Mannheim, Nürnberg und generell leider äußerst deutlich wird und deshalb besonders zu empfehlen ist. Es bleibt zu hoffen, dass beispielsweise mit der Schulplatzmiete Schüler*innen das Stück sehen und sich darin gesehen fühlen können, wie es in dieser Deutlichkeit in vielen anderen Stücken und vor allem Klassikern nicht der Fall ist. DRUCK! macht unmissverständlich die Relevanz von zeitgenössischem Theater, das real und rau ist, klar.
Weitere Vorstellungen finden am 30. November, 02., 09., 20. Dezember, 07., 17., 21. Januar, 15. Februar, 04., 12. März und 18. Juli statt. Vorstellungsbeginn ist jeweils 19:30 Uhr, außer am 30. November und 15. Februar bereits um 18 Uhr.
von Michaela Minder

Zarculea, Davíd Felipe Gavíria Malagón,
Kinan Hmeidan und Leon Wieferich

Zarculea und Valentina Schüler

Wieferich und Davíd Felipe Gavíria Malagón


Felipe Gavíria Malagón, Leon Wieferich
und Ioachim-Wilhelm Zarculea

Zarculea und Valentina Schüler
Fotos: © Ludwig Olah