Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt
Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt

Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt

„Was einer von uns geschieht, geschieht uns allen.“

CW: (sexualisierte) Gewalt, Selbstverletzung, Suizid, Magersucht

Mareike Fallwickls Roman Die Wut, die bleibt beginnt mit einer alltäglichen Szene von Müttern: Chaos am Abendbrottisch, Lärm und Forderungen im Überfluss – bis es nach dem vorwurfsvollen Unterton in der Frage ihres Mannes nach dem Salz für Helene nicht mehr geht. Sie stürzt sich wortlos vom Balkon in den Tod, entzieht sich endgültig dem Lärm, den Forderungen und den Vorwürfen, „dem, was das Leben einer Mutter zumutet“. Der Roman wird aus zwei Perspektiven der Zurückgebliebenen erzählt: der von Lola, ihrer fünfzehnjährigen Tochter, und Sarah, ihrer besten Freundin seit Kindertagen. Beide versuchen den Verlust auf ihre Art zu verarbeiten und handeln für sich aus, was es bedeutet in unserer Gesellschaft Frau zu sein.

„Damit sie die Last der Erwartungen tragen müssten, den Kummer in jeder Zelle, diese tiefgehende, von außen hineingepresste Enttäuschung, nicht zu entsprechen, nicht zu genügen, ein jeden Bereich des Frauenlebens betreffender Vorwurf, vor dem man nie davonlaufen kann, dem man überall begegnet, egal, wie schnell man rennt.“

Sarah versucht die Familie zu unterstützen, indem sie Helenes Arbeit für die Kinder und im Haushalt übernimmt. Auf eindringlichste Art erzählt Fallwickl von der Selbstverständlichkeit, mit der eine Frau von Kindern und Ehemann – mental und körperlich – in Beschlag genommen wird. Als Leser*in fühlt man förmlich physisch, wie viel es abverlangt, Mutter zu sein. Mental Load und Care Arbeit liegen überproportional bei Frauen in heterosexuellen Beziehungen, Erwartungs- und Anspruchshaltungen lauern an jeder Ecke und die explizit gezeigte Wertschätzung bleibt aus. Extrem deutlich wird das im Kontext der Lockdowns der COVID-19 Pandemie, zu deren Zeit der Roman spielt. In diversen Situationen illustriert Fallwickl das Ausmaß unseres patriarchalen Systems, wie es sich in familiären, aber auch partnerschaftlichen Dynamiken niederschlägt. Der stärkste Erzählstrang von Die Wut, die bleibt und die beachtliche Leistung der Autorin ist die gnadenlose Sichtbarmachung der Mehrfachbelastung von Frauen.

„Wie können wir anders sein, uns nicht ausbremsen lassen, wie können wir zu denen gehören, die nicht die Klappe halten, zu denen, mit denen niemand so was machen kann? Immer hat sie gedacht, das geht, und in Wahrheit geht das gar nicht.“

Lola liest das Missy Magazine und feministische Literatur, sie weiß darum, dass das patriarchale System Frauen wie ihre Mutter zermürbt. Als Leser*in begleitet man ihren Prozess der Emanzipation, amplifiziert durch ihre Trauer. Die Diskrepanz zwischen ihrem Feminismus und Sarah(s) bildet entscheidende Konflikte zwischen Frauen unterschiedlicher Generationen ab und zeichnet den Roman weiter aus, indem die Relevanz dieses Disconnects unter Frauen thematisiert wird. Mit Lolas Figur eröffnet Fallwickl Selbstermächtigung durch Selbstjustiz. Lola widerfährt Gewalt durch Männer und die Autorin zeigt mit ihrer Geschichte einprägsam die damit verbundene Ohnmacht, Wut und Verzweiflung auf. Um aus diesem Gefühl der Machtlosigkeit auszubrechen, beginnt eine Fehde der Vergeltung, die beim Lesen gemischte Gefühle hervorrufen kann. Zum einen zeugt ein Unwohlsein davon, wie ungewohnt es ist, Frauen in einer aktiven gewaltbereiten Position zu sehen. Gerade eine der finalen Szenen ist dafür besonders exemplarisch, da die Einschüchterung eines erwachsenen Mannes, verursacht durch die Drohgebärden eines Teenager-Mädchens, unrealistisch wirkt. Zum anderen wird in einer weiteren Szene sexuelle Übergriffigkeit damit gerächt, dass sich nun das Mädchen dem Jungen gegenüber sexuell übergriffig verhält. Fallwickl zwingt die Leser*innen dazu, diese Entwicklungen der Erzählung auszuhalten, und beschwört dadurch eine besondere Art der aufmerksamen und reflektierten Auseinandersetzung mit den Themen herauf – womöglich auch mit einem Ergebnis, das in besagten Beispielen konträr zur Intention der Autorin steht.

Ein zeitgenössischer feministischer Klassiker, der dennoch Schwachstellen aufweist

Obwohl der Feminismus in Die Wut, die bleibt omnipräsent ist, bleibt er jedoch wenig intersektional. Die Berücksichtigung von geschlechtlicher Vielfalt sowie Interdependenzen von Klasse und Rassifizierung fehlen. Der gestörte Umgang mit Essen und die Selbstverletzung – besonders zu Beginn des Romans – wird nur nachsichtig eingeordnet. Für eine Erzählung, die sich durch Feminismus definiert, wäre hier ein inklusiverer und umfassender Zugang wünschenswert gewesen.

Trotz dieser Einschränkungen trägt Mareike Fallwickl mit Die Wut, die bleibt erheblich zur Sichtbarmachung der Belastung und Ungleichbehandlung von Frauen im Patriarchat bei. Die Wut der Protagonistinnen ist schmerzlich spürbar und wird es auch für Leser*innen, die sich oder eigene Erfahrungen im Text wiederfinden. Obwohl die Lektüre deshalb sehr aufwühlend ist und man trotz des appellierenden Endes immer noch die Nachwehen der Ungerechtigkeit und Wut darüber spürt, bleiben am eindrücklichsten die Momente der weiblichen Solidarität zurück, die im Angesicht der patriarchalen Realität Hoffnung spenden.

von Michaela Minder

Mareike Fallwickl
Die Wut, die bleibt
Rowohlt Hundert Augen 2022
384 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-498-00296-1

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