Saša Stanišić – Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet wird
Saša Stanišić – Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet wird

Saša Stanišić – Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet wird

„Steckst du eine Häkelnadel in eine Steckdose, weißt du, wie das aussieht: diese Häkelnadel in dieser Steckdose.“

CW: Fluchterfahrungen, Klassismus, Krieg, Rassismus, Rechtsextremismus, Tod

„Steckst du eine Häkelnadel in eine Steckdose, weißt du, wie das aussieht: diese Häkelnadel in dieser Steckdose.“

Mit seinem neuesten Buch Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet wird legt Saša Stanišić diesmal eine Sammlung aus Reden vor – gehalten und ungehalten, immer mit dem Ziel der Ermutigung. Zum Teil wurden die Reden nachbearbeitet, um Wiederholungen zu vermeiden, neue Gedanken einzuarbeiten und Witze, über die nicht gelacht wurde, durch andere zu ersetzen. Insgesamt enthält das 160 Seiten schmale Büchlein neun Reden, die Stanišić überwiegend zu Preisverleihungen hielt.

„Eine Literatur der Zukunft, wie ich sie mir vorstelle, verbindet ästhetische Wucht mit ethischer Belastbarkeit.“

Nach einem kurzen Vorwort startet das Buch mit der titelgebenden Rede, die bereits deutlich zeigt, wie spielerisch Stanišić mit dem Strom umgeht. Er beschreibt ihn als schematische Darstellung im Physikunterricht, als Lebenselixier, als Metapher für die Gesellschaft. Einige Texte sind durch das Motiv des Stromkreises miteinander verknüpft, weisen aber grundsätzlich eine hohe Eigenständigkeit auf und lassen sich unabhängig voneinander lesen. Viele Abschnitte enthalten Überlegungen zu politischen Fragestellungen – immer verbunden mit einem Ringen der Literatur um Mitmenschlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und Freiheit.

„Wer allerdings unter Kunstfreiheit die Freiheit versteht, mit Fakten nachlässig umzugehen oder sie durch persönliche Spekulation zu verzerren, verwechselt Freiheit mit Beliebigkeit und verrät die Kunst an die Täter.“

Stanišić gibt interessante Einblick in sein Leben und Schreiben, kommentiert seine Bücher und teilt Hintergrundinformationen zum Rechercheprozess. An einigen Stellen ist es deshalb sehr hilfreich, wenn man Stanišićs Werk kennt. Obwohl die Form es nicht nahelegt, bereichern viele erzählerische Elemente das Buch und es sind – typisch Stanišić – zahlreiche Abschweifungen enthalten.

„Als Rechercheur mag ich Nischenwissen und statte allerdings zum Glück auch als Autor meine Figuren gern mit Nischenwissen aus, denn wer Nischenwissen besitzt, der wirkt aufregender und lebendiger, das ist Fakt.“

Mit gewohnter sprachlicher Raffinesse zieht Stanišić die Leser*innen in seinen Bann und man fliegt nur so durch die Seiten, während man über seine Wortkunst staunt. Die Form lädt aber auch dazu ein, das Buch wieder und wieder zur Hand zu nehmen, um einzelnen Gedanken vertieft nachzugehen. Besonders seine komplexen Überlegungen zu gesellschaftlichen Fragestellungen und seine kritische Perspektive auf segregierende Stadtplanung, Umgang mit menschlicher Not und Klassismus in der Literaturbranche – um nur einige der angesprochenen Themen zu benennen – verdienen es, als Denkanlass beachtet zu werden.

„Darum sollte es uns immer gehen – es anderen leichter machen. Ich weiß, das ist vereinfacht. Aber es ist auch wahr.“

Wie bei vielen Textsammlungen kristallisieren sich auch hier schnell Lieblinge heraus. Gleichzeitig ermöglicht die Vielfalt unterschiedliche Zugänge und sorgt für angenehme Abwechslung. Besonders interessant ist für Schreibende beispielsweise seine Rede über Recherche, welche er im Rahmen der Poetikvorlesung an der Hochschule RheinMain 2020 hielt. Lobend hervorzuheben ist auch der Text über Genossin Rozalija Mimić, Stanišićs Mathelehrerin, der vermutlich vor allem die Fans von Herkunft anspricht, wofür er 2019 den Deutschen Buchpreis gewann.

„Ich führe die Häkelnadel in die Steckdose und ich bin die Steckdose.“

Was in Schriftform bereits überzeugte, geradezu begeisterte, wird bei seinen Lesungen vermutlich zu einem bewegenden Erlebnis. Wer seine Live-Veranstaltungen kennt, hört seine Stimme in jeder Zeile und versteht: „Literatur lebt von der Erwartung, dass aus einer Erfindung eine Empfindung entsteht.“

von Jasmin Fuchs

Saša Stanišić
Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet wird
Luchterhand 2025
160 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-630-87840-9

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