„[D]as Dick Pic als gegendertes Bildgenre […] [um] visuelle Macht mit digitalen Mitteln auszuüben“
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Der Phallus ist überall – als Graffitis an Hauswänden, als Strohhalm auf Junggesellinnenabschieden und eben auch als unerwünscht Nachricht auf sozialen Medien wie Instagram. Beinahe jede zweite Frau zwischen 16 und 24 Jahren hat bereits letzteren Fall erlebt, obwohl das unerwünschte Versenden von pornographischen Inhalten – und dazu gehört ein Dick Pic sehr wohl – nach §184 StGB strafbar ist. Sarah Koldehoff widmet sich im Rahmen der Reihe Digitale Bildkulturen des Klaus Wagenbach Verlags im gleichnamigen Essay den Dick Pics, also Penisbildern. Die Autorin macht die Distinktion zwischen konsensuellen und nicht-konsensuellen Bildern, denn lediglich letztere sind gewaltvoll, indem die Sender „mit einem blutgefüllten Schwellkörper Macht über eine andere Person demonstrieren wollen“.
Koldehoff erklärt die Genese dieser Bildgattung; wie sich seit dem ersten Dick Pic, einer 42.000 Jahre alten Graphit-Schnitzerei, ein kulturhistorischer Wandel über das antike Rom, das viktorianische Zeitalter bis ins Heute vollzog. Popkultur prägt das zeitgenössische Verständnis und den Umgang mit den ungefragt und unerwünscht zugesendeten Penisbildern und ist ebenso ein Spiegel für den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs dazu, wie Koldehoff an den Beispielen US-amerikanischer Serien wie How I met your Mother und Friends zeigt.
‚Hä, ist doch nur Spaß, stell dich halt nicht so an‘
Koldehoff entschlüsselt ebenfalls, warum durch die tradierten semantischen Verknüpfungen ein Vulvabild nicht mit einem Penisbild gleichzusetzen ist. Die Auffassung von Sexualität und Konnotation von Geschlechtsteilen sorgt dafür, dass Nacktbilder der Genitalien unterschiedlich wahrgenommen werden und ihnen ein anderer Bedeutungsrahmen zugeteilt wird. Diese semantische Beweglichkeit sorgt auch dafür, dass geleakte Nacktbilder für Männer nicht die gleichen Konsequenzen haben wie für Frauen. Koldehoff spricht darüber hinaus von der symbolischen Flexibilität des männlichen Genitals, die eine Verharmlosung unter dem vermeintlichen Deckmantel des Humors sowie einen Verantwortungsentzug des Senders ermöglicht.
„Ich kann dich zwingen, dir meinen Penis anzuschauen und du kannst nichts dagegen tun.“
Die Autorin dechiffriert die Motivationen von Männern, nicht konsensuelle Dick Pics an Frauen zu versenden, aber macht gleichzeitig klar: „Eine Erklärung ist keine Entschuldigung und schon gar keine Lösung“. Sie appelliert an einen erforderlichen Wandel, den sie genau benennt. Gleichzeitig diskutiert sie die verschiedenen Möglichkeiten, auf ein nicht konsensuelles Dick Pic zu reagieren. Beispielsweise das Shaming, bei dem die Scham die Seite wechseln soll und Öffentlichkeit genutzt wird, Grenzen zu markieren, aber fraglich ist, ob das die Situation nicht verschärft. Auch suggeriert ein Shaming, dass ein Penisbild in Ordnung wäre, wenn dieser bestimmten Schönheitsmerkmalen entspreche, und das öffentliche Teilen schafft zwar Aufmerksamkeit, aber läuft damit auch Gefahr, zur Normalisierung beizutragen. Empathisch macht die Autorin deutlich, dass egal welchen Umgang Betroffene wählen, entscheidend ist, dass es ihnen damit gut geht, und verweist zusätzlich auf das Programm Dickstinction von der NGO HateAid, das beim Stellen einer Strafanzeige hilft.
Small but mighty – also das Essay
Generell geht Koldehoff sehr sorgfältig in die Analyse, betont die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen für cis und trans sowie weiße, able-bodied und normschöne Personen. An keiner Stelle wird von Männern oder Frauen als undefinierte Gruppe gesprochen, sondern die feine Einordnung wird stets vollzogen und zeugt von der genauen Arbeit der Autorin. Die nicht mal 70 Seiten Text sind nicht zu unterschätzen, da gründlich argumentiert wird und das Essay einen sehr dichten Informationsgehalt aufweist. Es nimmt auf jeden Fall wissenschaftliche Züge an, wird aber dennoch gut verständlich von der Autorin präsentiert. Eine deutliche Empfehlung für Dick Pics von Sarah Koldehoff!
von Michaela Minder

Sarah Koldehoff
Dick Pics. Selbstentblößung als Machtinstrument
Klaus Wagenbach 2025
80 Seiten
12,00 Euro
ISBN 978-3-8031-3764-7