Griechische Mythologie in der Gegenwartsliteratur
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Shakespeare hat es getan. Goethe auch. Davor, dazwischen und danach viele andere. Die Rede ist von Nacherzählungen oder Neuinterpretationen antiker griechischer Mythen. Gerade in den letzten Jahren scheinen ebensolche Geschichte mal wieder einen Boom zu erleben. Madeline Millers Das Lied des Achill, Pat Barkers Die Stille der Frauen, Stephen Frys Mythos (um nur wenige zu nennen) – sie begeistern tausende von Leser*innen. Colm Tóibín, der renommierte irische Gegenwartsliterat, hat sich in seinem Roman Haus der Namen, im Taschenbuch erschienen bei dtv, dem Mythos von Agamemnon, Klytaimnestra, Elektra, Iphigeneia und Oreste angenommen, der dysfunktionalsten Familie der griechischen Mythologie. Aus drei Erzählperspektiven (Klytaimnestras, Elektras und Orestes) berichtet er so von dem mythischen Stoff, dem er sich aus Aischylos‘ Orestie, Sophokles Elektra und Euripides‘ Elektra, Orestes und Iphigeneia in Aulis bediente. Um Gefallen an Tóibíns Version der Geschehnisse zu finden, muss man diese antiken Tragödien aber nicht gelesen haben.
„Ich bitte dich, mich zu verschonen. Ich bitte meinen Vater um etwas, worum keine Tochter jemals bitten müssen sollte: Vater, töte mich nicht!“
Die antiken Mythen wären nichts ohne ihre Götter, ohne Zeus und Hera, Hermes und Aphrodite, Poseidon und Hades, Athene und Apollo, … Ihnen zu huldigen, ist oberstes Gebot. Für gute Winde opfert deshalb Agamemnon, Heerführer der Griechen im Trojanischen Krieg, seine Tochter Iphigeneia den Göttern. Jedwedes Bitten und Betteln ihrer selbst sowie der verzweifelten Mutter Klytaimnestra bleibt unbeantwortet. Den grausamen Tod der Tochter zu rächen, wird der Lebensinhalt der Mutter. Dass sie dabei Tugend und Moral ablegt, um ein Korsett aus Wut, Rache und Gewalt anzulegen, davon berichtet Tóibín auf eindrückliche, ja beklemmende Weise.
„Dieser versunkene Garten ist der Ort, wo sie sterben wird.“
Traumatisiert von den Ereignissen der Opferung und getrieben von ihren Racheplänen, schafft es Klytaimnestra nicht, die Beziehung zu ihrer zweiten Tochter Elektra aufrechtzuerhalten, die sich nach dem brutalen Mord an ihrem Vater immer weiter von ihrer Mutter distanziert und ganz eigene Pläne schmiedet. Ein Reigen aus Selbstjustiz hat begonnen … Indes sieht sich der achtjährige Oreste, der auf Befehl der Mutter von Wächtern aus dem Palast gebracht wurde, damit der Mord an ihrem Ehemann gelingen kann, Hunger, Folter und skrupelloser Willkür gegenüber. Mit zwei entführten Jungen gelingt ihm die Flucht aus der Gefangenschaft. Und hier zeigen sich erste Schwächen der Geschichte. Um zu entkommen, scheuen die Kinder vor brutalen und blutigen Morden nicht zurück, die aber ganz ohne Trauma, ohne Skrupel, ohne Ängste, ohne Zögern, ohne jedwede Emotionen auskommen. Doch wenn alles gesagt und getan ist, dann sind diese Kinder am Ende des Tages eben genau das: Kinder. Unschuldige und empathische Jungen, an denen eine solche Brutalität schlichtweg nicht spurlos vorbeigehen kann, oder?
Und Elektra? Sie verlor bereits eine Schwester und nutzt trotzdem den zurückgekehrten Bruder für die eigene Rache an der Mutter aus. Von liebevoller Fürsorge keine Spur. Vielmehr ist Oreste, wieder einmal, der Leidtragende, obwohl Tóibín auch das mit nur geringen Einsichten in die Gefühlswelt kommentiert … bis die Geschichte abrupt endet.
„Nichts ist beständig, keine Farbe steht in diesem Licht still; die Schatten werden dunkler, und die Dinge auf der Erde verschmelzen miteinander, ebenso wie das, was wir alle taten, zu einer einzigen Tat verschmilzt, und all unsere Schreie und Gesten zu einem Schrei und einer Geste.“
Haus der Namen. Ein Familiendrama, das von Brutalität und Hass, von Manipulation und Rache geprägt ist. Eine Nacherzählung, in der Antike und Gegenwart eine Symbiose eingehen, die trotz einzelner Schwächen eine ungeahnte Anziehung ausstrahlt.
von Luisa Bader
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Colm Tóibín
Haus der Namen
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
dtv 2021
288 Seiten
12 Euro