Stefan Zweig – Brief einer Unbekannten
Stefan Zweig – Brief einer Unbekannten

Stefan Zweig – Brief einer Unbekannten

Ein Leben für die Liebe

„Der, der du mich nie gekannt.“ So beginnt der Brief, den eine unbekannte Frau dem Romanschriftsteller R. nach ihrem Tod zukommen lässt. Eines wird schnell klar: Es ist ein Bekenntnis, ein Liebesgeständnis, ein Abschied. „Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum ersten Mal alles sagen; mein ganzes Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du nie gewusst.“ Mit 13 Jahren baut die Unbekannte, ein schüchternes, ruhiges Mädchen, eine parasoziale Beziehung zu ihrem 25-jährigen Nachbarn auf, zu einem Mann, den sie eigentlich gar nicht kennt. Sie verliert sich in ihrer Obsession, ihrer Fantasie, ihren Sehnsüchten und Wünschen, beobachtet ihn, verfolgt sein Leben über viele Jahre hinweg. Und immer imaginiert sie ein Verhältnis, forciert es aber nie, vielmehr gleicht ihre Liebe einem stillen, ruhigen, aber immerwährenden Sentiment – bis es schließlich zu realen (sexuellen) Interaktionen kommt, die doch in nichts als unstillbarem Verlangen und alles verzehrender Sehnsucht resultieren. Die Kränkung, dass sich der Angebetete weder an sie als Jugendliche noch an die gemeinsamen Treffen als Erwachsene erinnert, erträgt sie demütig. Letztlich ist der Brief der Unbekannten auch ein Brief an einen Unbekannten. 

Toxizität im Epizentrum der Erzählung

Stefan Zweig hat das Seelenleben von Individuen in seinen Texten immer wieder ekstatisch ausgelotet, akribisch dargelegt, psychologisch durchleuchtet. Seine Novelle Brief einer Unbekannten (1922) beeindruckt trotzdem auf besondere Weise. Seine Fähigkeit, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt nicht nur eines weiblichen Individuums einzufühlen, sondern die pathetischen und fanatischen Stimmungslagen einer 13-jährigen Teenagerin nachzuzeichnen, ist einzigartig. Mit viel Feingefühl, weder überspitzt noch ins Lächerliche gezogen, skizziert er Verhaltensweisen, die mitunter universell menschliche Gefühlsregungen widerspiegeln, und macht ihre Toxizität zum Epizentrum der Erzählung. Ebendeshalb ist Brief einer Unbekannten eine herausragende Novelle im Werk Stefan Zweigs und ein sublimer Text der Literaturgeschichte, der inhaltlich wie sprachlich ob der psychologischen Genauigkeit und authentischen Charakterstudie begeistert. Die bibliophile Ausgabe des Reclam Verlags lädt zum (Wieder)Entdecken ein.

von Luisa Bader

Stefan Zweig
Brief einer Unbekannten
Reclam 2022
80 Seiten 
8,00 Euro

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