Leben ohne Liebe lernen
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Julis Familie lebt das perfekte Leben: Vater, Mutter, vier Vorzeigekinder, die mit Sicherheit in die beruflich großen Fußstapfen ihrer Eltern treten werden. Das Leben besteht aus Leistung und schönem Schein. Doch was sich tatsächlich im Alltag abspielt, kann niemandemzugemutet werden – am wenigsten doch eigentlich den Kindern, die den Launen und der Gewalt des Vaters ausgesetzt sind, während die Mutter das Elend nicht wahrhaben will. So wird Julis Lebensrealität nicht nur von den meisten Außenstehenden nicht wahrgenommen, sondern von der eigenen Familie aktiv negiert. Wie soll sie sich aus dieser Rolle lösen, wie soll sie diese Vergangenheit hinter sich lassen, um ein eigenes Leben zu führen?
Eine solche Kindheit hinterlässt nicht nur Spuren in Julis Psyche, sondern bestimmt ihr ganzes restliches Leben. Die Versuche, aus dem familiären Missbrauch herauszukommen, sind schwerfällig und misslingen zu oft. Weder ein Aufenthalt in der Psychiatrie noch der Auszug für ein Studium reichen aus, um alles hinter sich zu lassen. Auch eine Beziehung, die zum ersten Mal nicht von Leistungsdruck und Manipulation bestimmt ist, kann Juli keinen Halt geben. Zu sehr ist der Selbstzerstörungstrieb in ihr verankert. So gestaltet sich ihr Lebensweg holprig und ziellos, immer wieder führt es sie zurück in Abhängigkeitsverhältnisse und Aussichtslosigkeit. Wenn es gerade nicht die eigene Familie ist, die ihr keine Liebe geben kann, dann ist Juli selbst es, die sich aufgibt. Sei es ganz allein, vergraben in ihrer Depression, oder doch in einer neuen toxischen Beziehung, deren Mechanismen stark an die der eigenen Familie erinnern. Es ist ein Teufelskreis, aus dem Juli sich scheinbar nicht herauskämpfen kann.
Was sich im Elternhaus etabliert hat, setzt sich auch weiterhin in Julis Leben fort: Sie bleibt passiv in ihrer eigenen Realität. Die Versuche, auszubrechen, sind kaum von Erfolg gekrönt. Dabei ist Juli bewusst, wo das Problem steckt: „Mir wurde endlich klar, was Sache ist, und zwar, dass dieser Mann und diese Frau niemals Kinder bekommen haben. Nein, die haben lediglich Statisten produziert.“ Immer wieder wird Juli daran gehindert, ein freies und unbeschwertes Leben zu führen. Sie muss zu unangenehmen Mitteln greifen, sich ins Ungewisse wagen, um eventuell doch einmal den Absprung zu schaffen. Doch wer weiß, ob sie sich wirklich befreit?
Dieser Roman tut weh. Innerlich möchte man sich distanzieren von all dem, was in Julis Leben schiefläuft – aus Angst, zu sehr hineingezogen zu werden. Denn was ihr angetan wird, die Gewalt, die Manipulation, die Verweigerung von allem, was Kinder und jeder erwachsene Mensch brauchen, dem setzt man sich sonst nicht freiwillig aus. Doch Schumachers Spracheund ihre Beschreibungen von dem, was in Julis Psyche vor sich geht, wie sie ihrer Umwelt ausgeliefert ist, sind so intensiv, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Sie werfen einen direkt hinein ins Geschehen und in die Gefühlswelt der jungen Protagonistin, die um Selbstbestimmung kämpft. Ungefilterte Gedanken, widergespiegelt in unzensierter Sprache,zeichnen ein Bild, das klar vor einem steht. In diesen Zeilen stecken so viel Hass und so viel Liebe, dass es schwerfällt, das Buch am Ende zuzuklappen und sich von Juli zu verabschieden.
von Marlene Hartmann
Claudia Schumacher
Liebe ist gewaltig
dtv 2022
376 Seiten
22,00 Euro